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Freitag, 22. November 2019

DAS DRITTE JUDENEVANGELIUM VON BRONSTEIN-TROTZKI



Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

(Anti – Kautsky)

(1921)


Aus Leo Trotzki, Grundfragen der Revolution, 1923, pp. 1–219.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.

Vorwort

Das Kräfteverhältnis

Die Diktatur des Protetariats

Demokratie

„Entweder Demokratie oder Bürgerkrieg“
Die imperialistische Entartung der Demokratie
Die Metaphysik der Demokratie
Die Konstituierende Versammlung

Der Terrorismus

Die Preßfreiheit
Der Einfluß des Krieges

Die Pariser Kommune und Sowjetrußland

Der Mangel an Vorbereitung bei den sozialistischen Parteien der Kommune
Die Pariser Kommune und der Terrorismus
Das eigenmächtige Zentralkomitee und die „demokratische“ Kommune
Die demokratische Kommune und die revolutionäre Diktatur
Der Pariser Arbeiter von 1871 – der Petersburger Proletarier von 1917

Marx und – Kautsky

Die Arbeiterklasse und ihre Sowjetpolitik

Das russische Proletariat
Die Sowjets, die Gewerkschaften und die Partei
Die Bauernpolitik
Die Sowjetmacht und die Fachleute
Die internationale Politik der Sowjetmacht

Die Probleme der Organisation der Arbeit

Die Sowjetmacht und die Industrie
Bericht über die Organisierung der Arbeit
Die Arbeitspflicht
Die Militarisierung der Arbeit
Die Arbeitsarmeen
Einheitlicher Wirtschaftsplan!
Kollegialität und Einzelverwaltung
Schlußwort zum Bericht

Karl Kautsky, seine Schule und sein Buch

Statt eines Nachwortes

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1920/terror/index.html

Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

* * *

Vorwort

Anlaß zu diesem Buch gab Kautskys gelehrte Schmähschrift desselben Titels [1]). Die vorliegende Schrift ist in dem Zeitabschnitt der erbittertsten Kämpfe gegen Denikin und Judenitsch begonnen und zu wiederholten Malen durch die Ereignisse an der Front unterbrochen worden. In jenen schweren Tagen, als die ersten Kapitel geschrieben wurden, war die ganze Aufmerksamkeit Sowjetrußlands auf die rein militärischen Aufgaben gerichtet. Vor allem mußte die Möglichkeit des sozialistischen wirtschaftlichen Schaffens selbst verteidigt werden. Mit industriellen Arbeiten konnten wir uns nicht viel mehr beschäftigen, als zur Befriedigung der Fronten nötig war. Die wirtschaftliche Verleumdung Kautskys waren wir gezwungen, hauptsächlich mit Bezug auf seine politische Verleumdung zu entlarven. Die ungeheuerlichen Behauptungen Kautskys, als seien die russischen Arbeiter zur Arbeitsdisziplin und zur wirtschaftlichen Selbstbeschränkung nicht fähig, konnten wir bei Beginn dieser Arbeit – vor beinahe einem Jahr – zunächst durch Hinweise auf die hohe Diszipliniertheit und den Heldenmut der russischen Arbeiter an den Fronten des Bürgerkrieges widerlegen. Diese Erfahrung war mehr als ausreichend zur Widerlegung der kleinbürgerlichen Verleumdungen. Jetzt aber, nach einigen Monaten, können wir uns den Tatsachen und Beweisgründen zuwenden, die unmittelbar aus dem Wirtschaftsleben Sowjetrußlands geschöpft sind.
Sobald der militärische Druck nachgelassen hatte – nach der Zerschmetterung von Koltschak und Judenitsch und nach den entscheidenden Schlägen, die wir Denikin beigebracht hatten, nach dem Friedensschluß mit Estland und dem Beginn der Verhandlungen mit Litauen und Polen, vollzog sich im ganzen Lande ein wirtschaftlicher Umschwung. Die schnelle und konzentrierte Uebertragung der Aufmerksamkeit und Energie von den früheren Aufgaben auf Aufgaben gänzlich anderer Art, die aber nicht geringere Opfer erforderten, ist ein unwiderlegbares Zeugnis der machtvollen Lebensfähigkeit des Sowjetregimes. Trotz aller politischen Prüfungen, körperlichen Leiden und Schrecken sind die werktätigen Massen unendlich weit entfernt von politischer Auflösung, moralischem Verfall oder Gleichgültigkeit. Gerade durch das Regime, das ihnen zwar einerseits große Lasten aufgebürdet, andererseits aber ihrem Leben einen Sinn und ein hohes Ziel gegeben hat, bewahren sie sich eine hohe moralische Elastizität und eine in der Geschichte beispiellose Fähigkeit, die Aufmerksamkeit und den Willen auf Gesamtaufgaben, zu konzentrieren. Gegenwärtig wird in allen Industriezweigen ein energischer Kampf um die Festsetzung einer strengen Arbeitsdisziplin und um die Erhöhung der Produktivität der Arbeit geführt. Die Organisationen der Partei, die Gewerkschaftsverbände, die Fabrikleitungen wetteifern auf diesem Gebiet, unterstützt durch die gesamte öffentliche Meinung. Eine Fabrik nach der andern verlängert freiwillig durch Beschluß ihrer Generalversammlungen den Arbeitstag. Petersburg und Moskau gehen mit gutem Beispiel voran, und die Provinz richtet sich nach Petersburg. „Samstage“ und „Sonntage“, d. h. freiwillige und unbezahlte Arbeit in den Stunden, die eigentlich zur Erholung bestimmt sind, finden immer größere Verbreitung und ziehen Hunderttausende und Aberhunderttausende in ihren Kreis. Die Intensität und Produktivität der Arbeit am „Samstag“ und „Sonntag“ zeichnen sich, nach der Aussage von Fachleuten und dem Zeugnis der Zahlen, durch staunenswerte Höhe aus.
Die freiwilligen Mobilisationen für Arbeitsaufgaben werden in der Partei und im Jugendverband mit derselben Begeisterung durchgeführt, wie früher die Mobilisationen für Kampf auf gaben. Die freiwillige Arbeit ergänzt und beseelt die Arbeitspflicht. Die unlängst geschaffenen Komitees für Arbeitspflicht umfassen mit ihrem Netz das ganze Land. Die Heranziehung der Bevölkerung zu Massenarbeiten (Reinigen der Wege von Schnee, Reparatur der Eisenbahngeleise, Holzfällen, Holzbeschaffung und Transport, einfache Bauarbeiten, Gewinnung von Schiefer und Torf) nimmt immer breiteren und planmäßigeren Charakter an. Die immer ausgedehntere Heranziehung der Truppenteile zur Arbeit wäre ohne diese große Arbeitsbegeisterung ganz undurchführbar.
Es ist wahr, wir leben in Verhältnissen eines schweren wirtschaftlichen Verfalls, der Erschöpfung, der Arbeit, des Hungers. Das ist aber kein Beweisgrund gegen das Sowjetregime. Alle Uebergangszeiten waren durch ähnliche tragische Züge gekennzeichnet. Keine Klassengesellschaft (ob Sklaventum, ob feudale, ob kapitalistische Gesellschaft) verschwindet einfach vom Schauplatz, nachdem sie sich erschöpft hat, sondern sie wird durch angestrengten inneren Kampf gewaltsam hinweggefegt. Der Kampf legt den Beteiligten oft Entbehrungen und Leiden auf, die größer sind als die, gegen die sie sich erhoben hatten.
Der Uebergang von der Feudalwirtschaft zur bürgerlichen Wirtschaft – ein Umschwung von gewaltiger fortschrittlicher Bedeutung – stellt eine ungeheuere Leidensgeschichte dar. Wie sehr auch die Leibeigenen unter dem Feudalismus litten, wie schwer es auch das Proletariat unter der Herrschaft des Kapitalismus hatte und hat, niemals haben die Leiden der Werktätigen eine solche Schärfe erreicht, wie in dem Zeitabschnitt, wo das alte Feudalsystem gewaltsam zerbrochen wurde und dem neuen Regime Platz machte. Die französische Revolution des 18. Jahrhunderts, die ihren gigantischen Schwung dem Ansturm der gequälten Massen verdankte, vertiefte und verschärfte deren Leiden für längere Zeit außerordentlich.
Palastrevolutionen, die nur zu einem Personenwechsel an der Spitze führen, können in kurzer Zeit vollzogen werden, fast ohne sich im Wirtschaftsleben des Landes widerzuspiegeln. Anders die Revolutionen, die ganze Millionen Werktätiger in ihren Wirbel ziehen. Welche Form auch eine Gesellschaft haben mag, sie beruht auf der Arbeit. Dadurch, daß die Revolution die Volksmassen der Arbeit entzieht, sie für längere Zeit in den Kampf wirft und infolgedessen ihre Produktionsbeziehungen stört, bringt sie der Wirtschaft Schläge bei und drückt sie selbst unter den Zustand herab, den sie bei Beginn der Revolution erreicht hatte. Je tiefgehender die soziale Umwälzung ist, je größere Massen sie berührt, je länger sie dauert, desto mehr zerstört sie den Produktionsapparat, desto mehr verheert sie die Vorräte. Hieraus folgt der Schluß, der keines Beweises bedarf, daß der Bürgerkrieg die Wirtschaft schädigt. Aber die Schuld hieran dem Sowjetwirtschaftssystem aufbürden zu wollen, ist dasselbe, wie ein neues menschliches Wesen für die Geburtswehen der Mutter verantwortlich zu machen, die es zur Welt gebracht hat. Die Aufgabe besteht darin, den Bürgerkrieg zu verkürzen. Das jedoch wird nur durch Entschlossenheit des Handelns erreicht. Aber gerade gegen die revolutionäre Entschlossenheit ist das ganze Buch Kautskys gerichtet.

* * *

Seit dem Erscheinen des Buches, das wir besprechen, haben sich nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt und vor allem in Europa die größten Ereignisse zugetragen oder haben sich bedeutende Prozesse, die die letzten Stützen des Kautskyanismus untergraben, weiter entwickelt.
In Deutschland hat der Bürgerkrieg einen immer erbitterteren Charakter angenommen. Die äußere organisatorische Macht der alten Partei- und Gewerkschaftsbürokratie der Arbeiterklasse hat nicht nur nicht die Bedingungen für einen friedlicheren und humaneren Uebergang zum Sozialismus geschaffen, wie die jetzige Theorie Kautskys es hinstellt, sondern sie ist im Gegenteil zu einer der Hauptursachen für den langwierigen Charakter des Kampfes und seine ständig wachsende Erbitterung geworden. Je konservativer die deutsche Sozialdemokratie geworden ist, desto mehr Kräfte, Leben und Blut muß das von ihr verratene deutsche Proletariat in den aufeinanderfolgenden Attacken gegen die Festen der bürgerlichen Gesellschaft verausgaben, um sich im Prozeß des Kampfes selbst eine neue, wirklich revolutionäre Organisation zu schaffen, die fähig ist, es zum endgültigen Siege zu führen. Die Verschwörung der deutschen Generale, ihre vorübergehende Machtergreifung und die darauf folgenden blutigen Ereignisse haben von neuem gezeigt, was für ein kläglicher und nichtiger Mummenschanz die sogenannte Demokratie unter den Bedingungen des Zusammenbruchs des Imperialismus und des Bürgerkrieges ist. Die Demokratie, die sich selbst überlebt hat, entscheidet nicht eine Frage, mildert nicht einen Gegensatz, heilt nicht eine Wunde, verhindert weder die Aufstände von rechts noch die von links – sie ist kraftlos, unbedeutend, verlogen und dient nur dazu, die rückständigen Schichten des Volkes, besonders das Kleinbürgertum, in Verwirrung zu bringen.
Die von Kautskv im Schlußteil seines Buches ausgedrückte Hoffnung, daß die westlichen Länder, die „alten Demokratien“ Frankreich und England, die zudem noch vom Siege gekrönt sind, uns das Bild der gesunden, normalen, friedlichen, echt kautskyanischen Entwicklung zum Sozialismus zeigen werden, ist eine der sinnlosesten Vorstellungen. Die sogenannte republikanische Demokratie des siegreichen Frankreich ist gegenwärtig die reaktionärste blutigste und verderbteste Regierung von allen, die jemals auf der Erde existiert haben. Ihre innere Politik ist in demselben Maße wie ihre auswärtige Politik auf Furcht, Gier und Vergewaltigung aufgebaut. Andererseits geht das französische Proletariat, das mehr als jemals irgend eine andere Klasse betrogen worden ist, immer mehr zur direkten Aktion über. Die kleinlichen Unterdrückungen, mit denen die Regierung der Republik die allgemeine Konföderation der Arbeit überhäuft hat, beweisen, daß sogar der syndikalistische Kautskyanismus, d. h. der heuchlerische Verständigungssozialismus, im Rahmen der bürgerlichen Demokratie keinen legalen Platz finden kann. Die Revolutionierung der Massen, die Erbitterung der Besitzenden und der Zusammenbruch der Zwischengruppierungen – drei parallele Prozesse, die die Nähe des erbitterten Bürgerkrieges bedingen und verkünden – vollzogen sich vor unseren Augen während der letzten Monate in Frankreich in schnellem Tempo.
In England gehen die Ereignisse, wenn auch in der Form abweichend, denselben Hauptweg. In diesem Lande, dessen herrschende Klasse gegenwärtig mehr denn je die ganze Welt unterdrückt und beraubt, haben die demokratischen Formeln sogar als Werkzeug der parlamentarischen Taschenspielerei ihre Bedeutung verloren. Der auf diesem Gebiet tüchtigste Fachmann, Lloyd George, wendet sich jetzt nicht an die Demokratie, sondern an den Verband der konservativen und liberalen Besitzenden gegen die Arbeiterklasse. In seinen Argumenten ist auch nicht eine Spur von der demokratischen Verschwommenheit des „Marxisten“ Kautsky zu finden. Lloyd George steht auf dem Boden der Klassenrealitäten, und eben deshalb spricht er die Sprache des Bürgerkrieges. Die englische Arbeiterklasse mit dem ihr eigentümlichen schwerfälligen Empirismus nähert sich jenem Abschnitt ihres Kampfes, vor dem die heldenhaftesten Seiten der Kämpfe der Chartisten verblassen weiden, wie die Pariser Kommune verblassen wird vor dem nahen siegreichen Aufstand des französischen Proletariats.
Eben deshalb, weil die historischen Ereignisse während dieser Monate mit rauher Energie ihre revolutionäre Logik entwickeln, fragt der Verfasser des Buches sich, ob eine Veröffentlichung noch nötig sei. Ist es noch nötig, Kautsky theoretisch zu widerlegen? Besteht ein theoretisches Bedürfnis nach Rechtfertigung des revolutionären Terrorismus?
Leider – ja. Die Ideologie spielt in der sozialistischen Bewegung ihrem Wesen nach eine ungeheure Rolle. Sogar für das empirische England ist der Zeitpunkt eingetreten, wo die Arbeiterklasse ein ständig wachsendes Bedürfnis nach theoretischer Verallgemeinerung ihrer Erfahrungen und ihrer Aufgaben zeigt. Indessen hat die Psychologie, sogar die proletarische, die furchtbare Trägheit des Konservatismus, um so mehr, als es sich im gegebenen Fall um nichts anderes handelt, als um die überlieferte Ideologie der Parteien der Zweiten Internationale, die das Proletariat erweckt haben und noch unlängst so mächtig waren. Nach dem Zusammenbruch des offiziellen Sozialpatriotismus (Scheidemann, V. Adler, Renaudel, Vandervelde, Henderson, Plechanow u. a.) bildet der internationale Kautskyanismus (der Stab der deutschen Unabhängigen, Friedrich Adler, Longuet, ein beträchtlicher Teil der Italiener, Huysmans, die englischen „Unabhängigen“, die Gruppe Martow u. a.) den wichtigsten politischen Faktor, auf den sich das Gleichgewicht der kapitalistischen Gesellschaft stützt. Man kann sagen, daß der Wille der werktätigen Massen der ganzen zivilisierten Welt, der vom Gang der Ereignisse unmittelbar angetrieben wird, gegenwärtig ungleich revolutionärer ist als ihr Bewußtsein, auf dem noch die Vorurteile des Parlamentarismus und des Verständigungssozialismus lasten. Der Kampf um die Diktatur der Arbeiterklasse bedeutet für den Augenblick einen harten Kampf gegen den Kautskyanismus innerhalb der Arbeiterklasse. Die Lügen und die Vorurteile des Verständigungssozialismus, die noch die Atmosphäre, vergiften, müssen beiseite geworfen werden. Dem unversöhnlichen Kampf gegen den feigen, zur Halbheit neigenden und heuchlerischen Kautskyanismus aller Länder soll dieses Buch dienen.

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P. S. Jetzt (Mai 1920) haben sich über Sowjetrußland die Wolken wieder zusammengezogen. Das bürgerliche Polen hat durch seinen Ueberfall auf die Ukraine einen neuen Angriff des Weltimperialismus auf Sowjetrußland eröffnet. Die größten Gefahren, die von neuem die Revolution bedrohen, und die ungeheuren Opfer, die der Krieg den werktätigen Massen auferlegt, stoßen die russischen Kautskyaner wiederum auf den Weg des offenen Widerstandes gegen die Sowjetmacht, d. h. tatsächlich auf den Weg der Unterstützung der Würger des sozialistischen Rußland. Es ist das Schicksal der Kautskyaner, der proletarischen Revolution helfen zu wollen, wenn es gut um sie bestellt ist, und ihr alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen, wenn sie besonders hilfsbedürftig ist. Kautsky hat schon zu wiederholten Malen unseren Untergang vorausgesagt, der das beste Zeugnis dafür sein soll, daß er, Kautsky, theoretisch Recht habe. Dieser „Erbe Marx“ ist so tief gesunken, daß sein einziges ernstes politisches Programm die Spekulation auf den Zusammenbruch der proletarischen Diktatur ist.
Er wird auch dieses Mal fehlgehen. Die Zerschmetterung des bürgerlichen Polen durch die rote Armee, die von kommunistischen Arbeitern geführt wird, wird eine neue Manifestation der Macht der proletarischen Diktatur sein und gerade dadurch dem kleinbürgerlichen Skeptizismus (Kautskyanismus) in der Arbeiterbewegung den entscheidenden Schlag versetzen. Trotz der wahnsinnigen Wirrnis der äußeren Formen, Losungen und Farben hat unsere zeitgenössische Geschichte den Grundinhalt ihres Prozesses außerordentlich vereinfacht und läßt ihn auf den Kampf des Imperialismus gegen den Kommunismus hinauslaufen. Pilsudski kämpft nicht nur um die Länder der polnischen Magnaten in der Ukraine und in Weißrußland, nicht nur um den kapitalistischen Besitz und die katholische Kirche, sondern auch um die parlamentarische Demokratie, um den demokratischen Sozialismus, um die Zweite Internationale, um das Recht Kautskys, der kritische Schmarotzer der Bourgeoisie zu bleiben. Wir kämpfen um die Kommunistische Internationale und die internationale Revolution des Proletariats. Der Einsatz auf beiden Seiten ist hoch. Der Kampf wird hartnäckig und schwer sein. Wir hoffen auf den Sieg, denn mit uns ist das historische Recht.
Moskau, den 29. Mai 1920
L. Trotzki

Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Das „Kräfteverhältnis“

Ein Beweisgrund, den die Kritik am Sowjetregime Rußlands und besonders die Kritik an dem revolutionären Versuch der Aufrichtung desselben Regimes in anderen Ländern unvermeidlich wiederholt, – das ist der Beweisgrund des Kräfteverhältnisses. Das Sowjetregime in Rußland sei utopisch, denn ,,es entspreche nicht dem Kräfteverhältnis“. Das rückständige Rußland könne sich nicht Aufgaben stellen, denen das vorgeschrittene Deutschland gewachsen sei. Aber auch für das Proletariat Deutschlands wäre es ein Wahnsinn, die politische Macht zu ergreifen, da dies „gegenwärtig“ das Kräfteverhältnis stören würde. Der Völkerbund sei unvollkommen, dafür entspreche er aber dem Kräfteverhältnis. Der Kampf um den Sturz der imperialistischen Herrschaft sei utopisch, – dem Kräfteverhältnis aber entspreche die Aenderung des Versailler Vertrages. Wenn Longuet hinter Wilson herläuft, so geschehe das nicht infolge der politischen Haltlosigkeit Longuets, sondern im Namen des Gesetzes des Kräfteverhältnisses. Der österreichische Präsident Seitz und der Kanzler Renner müssen, nach der Meinung Friedlich Adlers, ihre kleinbürgerliche Trivialität auf zentralen Posten der bürgerlichen Republik üben, denn sonst würde das Kräfteverhältnis gestört werden. Zwei Jahre vor dem Weltkriege setzte mir Karl Renner, damals noch nicht Kanzler, sondern „marxistischer“ Anwalt des Opportunismus, auseinander, daß das Zarenregiment vom 3. Juli, d. h. der von der Monarchie gekrönte Bund der Großgrundbesitzer und Kapitalisten, sich in Rußland unausbleiblich im Laufe einer ganzen historischen Epoche halten würde, da dies dem Kräfteverhältnis entspreche.
Was ist denn dies Kräfteverhältnis für eine sakramentale Formel, die den ganzen Verlauf der Geschichte, en gros und en detail, bestimmen, lenken und erklären muß? Warum eigentlich tritt diese Formel des Kräfteverhältnisses in der jetzigen Schule Kautskys unvermeidlich auf, als Rechtfertigung der Unentschlossenheit, der Stagnation, der Feigheit, des Treubruchs und des Verrats?
Unter „Kräfteverhältnis“ versteht man alles, was man will: die erreichte Höhe der Produktion, die Stufe der Klassendifferenzierung, die Zahl der organisierten Arbeiter, den Kassenbestand der Gewerkschaftsverbände, manchmal das Resultat der letzten Parlamentswahlen, nicht selten den Grad der Nachgiebigkeit des Ministeriums oder die Stufe der Unverschämtheit der Finanzoligarchie, – am häufigsten endlich jenen summarischen politischen Eindruck, den der halbblinde Pedant oder der sogenannte reale Politiker empfängt, der, obgleich er sich die Phraseologie des Marxismus aneignet, sich in der Tat von den abgeschmacktesten Kombinationen, spießbürgerlichen Vorurteilen und parlamentarischen „Merkmalen“ leiten läßt. Nach einem Getuschel mit dem Direktor des Polizeidepartements wußte der österreichische sozialdemokratische Politiker in der guten und gar nicht so alten Zeit immer ganz genau, ob – dem Kräfteverhältnis nach – eine friedliche Straßendemonstration am 1. Mai in Wien zulässig sei oder nicht. Für die Ebert, Scheidemann und David wurde das Kräfteverhältnis vor nicht zu langer Zeit durch die Anzahl der Finger gemessen, die ihnen Bethmann-Hollweg oder Ludendorff in eigener Person beim Empfang im Reichstage entgegenstreckten.
Nach Friedrich Adler würde die Errichtung einer Sowjetregierung in Oesterreich eine verderbliche Störung des Kräfteverhältnisses sein: die Entente würde Oesterreich dem Hunger preisgeben. Als Beweis wies Adler auf dem Rätekongreß – Juli 1919 – auf Rußland und Ungarn hin, wo es in jener Periode den ungarischen Rennern noch nicht gelungen war, mit Hilfe der ungarischen Adler die Räteregierung zu stürzen. Auf den ersten Blick konnte es in der Tat scheinen, als ob Friedrich Adler in bezug auf Ungarn Recht behalten habe: die proletarische Diktatur wurde dort gestürzt und ihre Stelle nahm das Ministerium Friedrich ein. Es ist aber durchaus zulässig, zu fragen, ob das dem Kräfteverhältnis entsprach. Auf jeden Fall wären Friedrich und sein Huszar auch nicht zeitweilig an die Macht gestellt worden, wenn die rumänische Armee nicht dagewesen wäre. Hieraus folgt deutlich, daß man bei der Erklärung des Schicksals der Sowjetmacht in Ungarn das „Kräfteverhältnis“ in mindestens zwei Ländern in Betracht ziehen muß: in Ungarn selbst und in dem benachbarten Rumänien. Es ist aber nicht schwer zu begreifen, daß man dabei nicht Halt machen darf: wäre in Oesterreich die Rätediktatur vor dem Eintritt der ungarischen Krisis errichtet worden, so hätte sich der Sturz der Sowjetregierung in Budapest als eine ungleich schwierigere Aufgabe erwiesen. Folglich muß auch Oesterreich mit der verräterischen Politik Friedrich Adlers in das Kräfteverhältnis eingeschlossen werden, das den vorläufigen Sturz der Sowjetmacht in Ungarn bestimmte.
Friedrich Adler selbst sucht jedoch den Schlüssel zum Kräfteverhältnis nicht in Rußland und Ungarn, sondern im Westen, in den Ländern Clemenceaus und Lloyd Georges: die haben Korn und Kohle in Händen; Kohle und Korn aber sind, besonders in unserer Zeit, ein ebenso erstklassiger Faktor in der Mechanik des Kräfteverhältnisses, wie die Kanonen in der Lasalleschen Verfassung. Der erhabene Gedanke Adlers besteht bei Lichte besehen folglich darin, daß das österreichische Proletariat so lange nicht die Macht ergreifen dürfe, bis ihm dies von Clemenceau (oder von Millerand, d. h. dem Clemenceau zweiter Sorte) gestattet werde.
Jedoch auch hier ist die Frage zulässig: entspricht Clemenceaus Politik selbst dem wirklichen Kräfteverhältnis? Auf den ersten Blick mag es scheinen, daß die Gendarmen Clemenceaus, – die die Arbeiterversammlungen auseinanderjagen, die Kommunisten verhaften und erschießen, – das Kräfteverhältnis genügend, wenn auch nicht beweisen, so doch sicherstellen. Aber hier kann man nicht umhin, daran zu denken, daß die terroristischen Maßnahmen der Sowjetmacht, d. h. dieselben Haussuchungen, Verhaftungen und die Anwendung der Todesstrafe, – hier allerdings gegen die Gegenrevolutionäre gerichtet, – von so manchem für einen Beweis dafür gehalten werden, daß die Sowjetmacht dem Kräfteverhältnis nicht entspricht. Vergeblich würden wir jedoch gegenwärtig in der ganzen Welt nach einem Regime suchen, das zu seiner Aufrechterhaltung nicht harte Massenrepressalien anwendet. Das bedeutet, daß die feindlichen Klassenkräfte nach Durchbrechung der Hüllen eines jeden, darunter auch des „demokratischen“ Rechts, bestrebt sind, ihre neuen Wechselbeziehungen durch schonungslosen Kampf zu bestimmen.
Als in Rußland das Sowjetsystem errichtet wurde, erklärten nicht nur die kapitalistischen Politiker, sondern auch die sozialistischen Opportunisten aller Länder dies für eine freche Herausforderung des Kräfteverhältnisses. In dieser Beziehung bestanden keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Kautsky, dem habsburgischen Grafen Czernin und dem bulgarischen Ministerpräsidenten Radoslawow. Seit der Zeit ist die österreichisch-ungarische und die deutsche Monarchie zusammengebrochen und der mächtigste Militarismus der Welt zu Staub geworden. Die Sowjetmacht hat sich behauptet. Die siegreichen Ententeländer haben alles, was sie konnten, mobilisiert und ihr entgegengeworfen. Die Sowjetmacht hat standgehalten. Hätte man Kautsky, Friedrich Adler oder Otto Bauer vor zwei Jahren vorausgesagt, daß die Diktatur des Proletariats in Rußland erst dem Ansturm des deutschen Imperialismus, darauf in ununterbrochenem Kampf dem Imperialismus der Ententeländer standhalten werde, so würden die Weisen der Zweiten Internationale eine solche Prophezeiung für eine lächerlich falsche Auffassung des Kräfteverhältnisses gehalten haben.
Die Wechselbeziehungen der politischen Kräfte werden in jedem gegebenen Augenblick unter dem Einfluß der grundlegenden und abgeleiteten Machtfaktoren verschiedener Stufen gebildet und nur in ihrer tiefsten Grundlage werden sie durch die Entwicklungsstufe der Produktion bestimmt. Die soziale Struktur des Volkes bleibt hinter der Entwicklung der Produktivkräfte sehr stark zurück. Das Kleinbürgertum und insbesondere die Bauernschaft erhalten ihre Existenz aufrecht, nachdem ihre Wirtschaftsmethoden längst aufgegeben und von der produktivtechnischen Entwicklung der Gesellschaft verurteilt und überholt sind. Das Bewußtsein der Massen bleibt seinerseits außerordentlich hinter der Entwicklung der sozialen Verhältnisse zurück; das Bewußtsein der alten sozialistischen Parteien bleibt um eine ganze Epoche hinter der Stimmung der Massen zurück, und das Bewußtsein der alten Parlaments- und Trade- Unionsführer, das reaktionärer als das Bewußtsein ihrer Partei ist, stellt einen erstarrten Klumpen dar, den die Geschichte bis zum gegenwärtigen Augenblick weder zu verdauen noch auszustoßen vermochte. In der friedlichen parlamentarischen Epoche, bei der Widerstandsfähigkeit der sozialen Beziehungen, wurde allen laufenden Berechnungen – ohne schreiende Fehler – der psychologische Faktor zugrundegelegt : es wurde angenommen, daß die Parlamentswahlen annähernd vollkommen das Kräfteverhältnis widerspiegeln. Der imperialistische Krieg hat, nachdem er das Gleichgewicht der bürgerlichen Gesellschaft gestört hat, die volle Untauglichkeit der alten Kriterien offenbart, die jene tiefen historischen Faktoren absolut nicht berühren, die sich in der vorhergehenden Epoche allmählich angehäuft haben und jetzt mit einem Mal hervorgetreten sind und die Bewegung der Geschichte bestimmen.
Die politischen Routiniers, die unfähig sind, den geschichtlichen Prozeß in seiner Gesamtheit, in seinen inneren Widersprüchen und Gegensätzen zu erfassen, stellten sich die Sache so vor, als ob die Geschichte das sozialistische Regime gleichzeitig von allen Seiten und planmäßig vorbereite, so daß die Konzentration der Produktion, die kommunistische Moral des Erzeugers und des Konsumenten gleichzeitig mit dem elektrischen Pfluge und der Parlamentsmehrheit reifen. Hieraus folgte ein rein mechanisches Verhältnis zum Parlamentarismus, der in den Augen der Mehrheit der Politiker der Zweiten Internationale ebenso unfehlbar den Reifegrad der Gesellschaft für den Sozialismus angibt, wie der Manometer die Kraft der Dampfspannung. Indessen gibt es nichts Sinnloseres, als eine solche mechanisierte Vorstellung von der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Wenn man von der Produktionsbasis der Gesellschaft an die Stufen des Ueberbaues: der Klassen, des Staates, des Rechts, der Parteien usw. verfolgt, so kann man feststellen, daß die Trägheit jedes weiteren Ueberbaues nicht einfach zu der Trägheit der vorhergehenden Stufe addiert, sondern in vielen Fällen mit der Trägheit der vorhergehenden multipliziert werden muß. Als Endergebnis offenbart sich das politische Bewußtsein der Gruppen, die sich lange für die vorgeschrittensten hielten, im Augenblick des Umschwunges als ein kolossaler Hemmschuh der historischen Entwicklung. Gegenwärtig ist unzweifelhaft, daß die an der Spitze des Proletariats stehenden Parteien der Zweiten Internationale, die nicht gewillt waren, es nicht wagten und nicht verstanden, im kritischsten Augenblicke der menschlichen Geschichte die Macht in ihre Hände zu nehmen, und die das Proletariat auf den Weg der imperialistischen gegenseitigen Vernichtung führten, sich als entscheidende Kraft der Gegenrevolution entpuppt haben.
Die machtvollen Produktivkräfte, dieser Antrieb der geschichtlichen Bewegung, erstickten in den rückständigen Ueberbauinstitutionen (Privateigentum und Nationalstaat), in die sie durch die vorhergehende Entwicklung eingepfercht waren. Vom Kapitalismus aufgezogen, klopften die Produktivkräfte an alle Wände des national-bürgerlichen Staates, ihre Befreiung vermittelst der sozialistischen Organisation der Wirtschaft im Weltmaßstäbe fordernd. Die Trägheit der sozialen Gruppierungen, die Trägheit der politischen Kräfte, die sich als unfähig erwiesen, die alten Klassengruppierungen zu zerstören; die Trägheit und der Verrat der leitenden sozialistischen Parteien, die tatsächlich den Schutz der bürgerlichen Gesellschaft übernommen hatten, – das alles führte zur elementaren Empörung der Produktivkräfte in der Form des imperialistischen Krieges. Die menschliche Technik, dieser revolutionärste Faktor der Geschichte, erhob sich mit ihrer durch Jahrzehnte aufgehäuften Macht gegen den widerwärtigen Konservatismus und den schändlichen Stumpfsinn der Scheidemann, Kautsky, Renaudel, Vandervelde, Longuet und veranstaltete vermittelst ihrer Haubitzen, Mitrailleusen, Dreadnoughts und Luftschiffe eine rasende Zerstörung der menschlichen Kultur.
Auf diese Weise besteht die Ursache des Elends, das die Menschheit gegenwärtig durchmacht, gerade darin, daß die Entwicklung der technischen Macht des Menschen über die Natur schon längst für die Sozialisierung der Wirtschaft reif war, daß das Proletariat in der Produktion eine Stellung eingenommen hat, die seine Diktatur vollkommen sicherte, während die bewußtlosen Kräfte der Geschichte – die Parteien und ihre Führer – sich noch vollständig unter dem Joch der alten Vorurteile befanden und nur das Mißtrauen der Massen zu sich selbst nährten. Vor einigen Jahren verstand das Kautsky. „Das Proletariat ist gegenwärtig so erstarkt,“ schrieb Kautsky in der Broschüre Der Weg zur Macht, „daß es mit großer Ruhe den herannahenden Sieg erwarten kann. Von einer vorzeitigen Revolution kann nicht mehr die Rede sein zu einer Zeit, wo das Proletariat aus der gegebenen staatlichen Basis so viel Kräfte gezogen hat, wie man aus ihr schöpfen konnte und wo ihr Umbau zu einer Bedingung seines ferneren Aufschwunges geworden ist.“ Von dem Augenblick an, wo die Entwicklung der Produktivkräfte, die über den Rahmen des national-bürgerlichen Staates hinausgewachsen sind, die Menschheit in die Epoche der Krisen und Erschütterungen hineingezogen hat, ist das Bewußtsein der Massen durch drohende Stöße aus dem relativen Gleichgewicht der vorhergehenden Epoche gebracht worden. Die Routine und die Trägheit der Lebensgewohnheiten, die Hypnose der friedlichen Legalität haben ihre Macht über das Proletariat verloren. Es hat aber noch nicht bewußt und bedingungslos den Weg des offenen revolutionären Kampfes betreten. Es schwankt, denn es durchlebt die letzten Stunden des labilen Gleichgewichts. In diesem Augenblick des psychologischen Umschwunges ist die Rolle des Gipfels, der Staatsmacht einerseits und der revolutionären Partei andererseits, von kolossaler Bedeutung. Ein entschiedener Stoß von rechts oder von links genügt, um das Proletariat – für eine gewisse Periode – nach der einen oder andern Seite zu rücken. Das haben wir im Jahre 1914 gesehen, als die Arbeiterklasse durch den vereinten Druck der imperialistischen Regierungen und der sozialpatriotischen Parteien mit einem Mal aus ihrem Geleise und auf den Weg des Imperialismus geworfen wurde. Wir sehen dann, wie die Prüfungen des Krieges, die Kontraste seiner Resultate mit seinen ursprünglichen Losungen die Massen revolutionär erschüttern und sie für den offenen Auf stand gegen das Kapital immer fähiger machen. Unter diesen Bedingungen ist das Vorhandensein einer revolutionären Partei wichtig, die sich über die Triebkräfte der gegenwärtigen Epoche klare Rechenschaft ablegt und die ausschließliche Stellung ihrer revolutionären Klasse in der Reihe dieser Kräfte begreift, die die unerschöpflichen Kräfte dieser Klasse kennt, die an diese Klasse glaubt, die an sich glaubt, die die Macht der revolutionären Methode in der Epoche der Unbeständigkeit aller sozialen Verhältnisse kennt; die bereit ist, diese Methode anzuwenden und sie bis zu Ende zu führen, – das Vorhandensein einer solchen Partei stellt eine Tatsache von unschätzbarer geschichtlicher Bedeutung dar.
Und umgekehrt: eine über einen traditionellen Einfluß verfügende sozialistische Partei, die sich keine Rechenschaft davon ablegt, was um sie her vorgeht, die die revolutionäre Situation nicht begreift und daher nicht den Schlüssel zu ihr findet, die weder an das Proletariat noch an sich selbst glaubt, eine solche Partei ist in unserer Epoche der schädlichste historische Faktor, die Quelle der Wirren und des entkräftenden Chaos.
Derart ist gegenwärtig die Rolle Kautskys und seiner Gesinnungsgenossen. Sie lehren das Proletariat, nicht an sich selbst, sondern an sein Zerrbild im Spiegel der Demokratie zu glauben, das von dem Stiefel des Militarismus in tausend Scherben geschlagen wurde. Entscheidend für die revolutionäre Politik des Proletariats müsse, ihrer Meinung nach, nicht die internationale Situation sein, nicht der tatsächliche Zusammenbruch des Kapitals, nicht der durch diesen Zusammenbruch hervorgerufene Verfall der Gesellschaft, nicht jene objektive Notwendigkeit der Herrschaft der Arbeiterklasse, eine Notwendigkeit die aus den rauchenden Trümmerhaufen der kapitalistischen Zivilisation zum Himmel schreit, – nicht alles das müsse die Politik der revolutionären Partei des Proletariats bestimmen, sondern eine Zählung der Stimmen, die von den kapitalistischen Kalkulatoren des Parlamentarismus vorgenommen wird. Vor nur wenigen Jahren, wir wiederholen, schien Kautsky anderer Meinung zu sein.
„Wenn das Proletariat die einzige revolutionäre Klasse der Nation darstellt,“ schrieb Kautsky in seiner Broschüre Der Weg zur Macht, „so folgt hieraus, daß jeder Zusammenbruch des gegenwärtigen Regimes, ob er moralischen, finanziellen oder militärischen Charakters ist, den Bankrott aller bürgerlichen Parteien bedeutet, die für dies alles verantwortlich sind, und daß der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse die Errichtung der Macht des Proletariats ist.“ –
Heute aber sagt die Partei der Ohnmacht und der Feigheit, die Partei Kautskys, der Arbeiterklasse:
„Es handelt sich nicht darum, ob Du gegenwärtig die einzige schöpferische Kraft der Geschichte bist, ob Du fähig bist, jene herrschende Räuberbande zu stürzen, zu der die besitzenden Klassen entartet sind, es handelt sich nicht darum, daß niemand diese Aufgabe für Dich erfüllen kann; nicht darum, daß die Geschichte Dir keinen Aufschub gibt, da der gegenwärtige Zustand des blutigen Chaos Dich selbst unter den letzten Trümmern des Kapitalismus zu begraben droht, – es handelt sich darum, daß es den herrschenden imperialistischen Banden gestern oder heute gelungen ist, 51 Prozent Stimmen gegen Deine 49 zu sammeln und die öffentliche Meinung zu betrügen, zu vergewaltigen und zu bestechen. – Es lebe die parlamentarische Mehrheit, wenn auch die Welt zugrunde geht!“


Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Die Diktatur des Proletariats

„Marx und Engels haben den Begriff der Diktatur des Proletariats geprägt, die Engels 1891, kurz vor seinem Tode, hartnäckig verfocht, – den Begriff der politischen Alleinherrschaft des Proletariats, als der einzigen Form, in der es die politische Macht auszuüben vermöge.“
So schrieb Kautsky vor ungefähr zehn Jahren. Für die einzige Form der Macht des Proletariats hielt er nicht die sozialistische Mehrheit im demokratischen Parlament, sondern die politische Alleinherrschaft des Proletariats, seine Diktatur. Es ist vollkommen klar, daß, wenn man die Aufgabe in der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln sieht, der einzige Weg zu ihrer Lösung in der Konzentrierung der ganzen Staatsmacht in den Händen des Proletariats und in der Schaffung eines solchen ausschließlichen Regimes für die Uebergangsperiode besteht, bei dem die herrschende Klasse sich nicht von allgemeinen, für eine lange Periode berechneten Normen leiten läßt, sondern von Erwägungen der revolutionären Zweckmäßigkeit.
Die Diktatur ist deshalb notwendig, weil es sich nicht um einzelne Teiländerungen, sondern um die Vernichtung der Existenz der Bourgeoisie selbst handelt. Auf diesem Boden ist eine Verständigung unmöglich. Hier kann nur die Gewalt entscheiden. Die Alleinherrschaft des Proletariats schließt, versteht sich, weder einzelne Abkommen, noch bedeutende Zugeständnisse, besonders in bezug auf das Kleinbürgertum und die Bauernschaft, aus. Aber diese Abkommen kann das Proletariat nur treffen, nachdem es von dem materiellen Machtapparat Besitz ergriffen und sich die Möglichkeit gesichert hat, selbständig zu entscheiden, welche Abkommen zu treffen und welche im Interesse der sozialistischen Aufgabe abzulehnen sind.
Jetzt verwirft Kautsky die Diktatur des Proletariats rundweg als „Gewalttat der Minderheit an der Mehrheit“, d. h. er charakterisiert das revolutionäre Regime des Proletariats mit denselben Zügen, mit denen die ehrlichen Sozialisten aller Länder stets die (wenn auch mit den Formen der Demokratie verhüllte) Diktatur der Ausbeuter charakterisiert haben.
Nachdem er sich von der revolutionären Diktatur losgesagt hat, löst Kautsky die Frage der Eroberung der Macht durch das Proletariat in die Frage der Eroberung der Stimmenmehrheit durch die Sozialdemokratie während einer der zukünftigen Wahlkampagnen auf. Gemäß der juristischen Fiktion des Parlamentarismus gibt das allgemeine Wahlrecht dem Willen der Bürger aller Klassen der Nation Ausdruck und eröffnet folglich die Möglichkeit, die Mehrheit auf die Seite des Sozialismus zu ziehen. Solange diese theoretische Möglichkeit nicht zur Wirklichkeit geworden sei, müsse sich die sozialistische Minderheit der bürgerlichen Mehrheit fügen. Der Fetischismus der parlamentarischen Mehrheit ist eine grobe Lossagung nicht nur von der Diktatur des Proletariats, sondern auch vom Marxismus und von der Revolution überhaupt. Wollte man die sozialistische Politik dem parlamentarischen Sakrament von Majorität und Minorität prinzipiell unterordnen, so würde in den Ländern der formalen Demokratie für den revolutionären Kampf kein Platz sein. Wenn die auf Grund allgemeiner Wahlen zustandegekommene Mehrheit in der Schweiz drakonische Bestimmungen gegen die Streikenden erläßt oder wenn die vollziehende Gewalt, die in Amerika dem Willen der formalen Mehrheit gemäß existiert, die Arbeiter erschießen läßt, haben dann die schweizerischen und amerikanischen Arbeiter das „Recht“, durch Anwendung des Generalstreiks zu protestieren? Offenbar nicht. Der politische Streik ist eine Form des außerparlamentarischen Druckes auf den „nationalen Willen“, wie dieser vermittelst der allgemeinen Abstimmung zum Ausdruck kam. Freilich hat Kautsky selbst Bedenken, so weit zu gehen, wie dies die Logik seiner neuen Stellung erfordert. Durch einige Ueberbleibsel der Vergangenheit gebunden, ist er gezwungen, die Zulässigkeit der Einbringung von Abänderungsanträgen zum allgemeinen Wahlrecht durch die Tat anzuerkennen. Die Parlamentswahlen waren, wenigstens im Prinzip, für die Sozialdemokraten niemals ein Ersatz für den realen Klassenkampf, für Zusammenstöße, Abwehr, Angriffe, Aufstände, sie waren nur ein Hilfselement in diesem Kampf, wobei sie in der einen Epoche eine größere, in der anderen eine kleinere Rolle spielten, um in der Epoche der Diktatur zu einem Nichts zusammenzuschrumpfen.
Im Jahre 1891, d. h. schon kurz vor seinem Tode, hat Engels, wie wir soeben gehört haben, die Diktatur des Proletariats als die einzige Form der staatlichen Macht des Proletariats beharrlich verteidigt. Kautsky selbst hat diese Definition mehrmals wiederholt. Hieraus ist, nebenbei bemerkt, ersichtlich, was für eine unwürdige Fälschung der jetzige Versuch Kautskys ist, uns die Diktatur des Proletariats als eine besondere, angeblich russische Erfindung zu unterschieben.
Wer das Ziel erreichen will, der kann die Mittel nicht ablehnen. Der Kampf muß mit einer Intensität geführt werden, die tatsächlich die Alleinherrschaft des Proletariats sichert. Erfordert die Aufgabe des sozialistischen Umsturzes die Diktatur, – „die einzige Form, durch die das Proletariat seine staatliche Macht verwirklichen kann“ –, so muß die Diktatur, koste es, was es wolle, gesichert werden.
Um eine Broschüre über die Diktatur zu schreiben, muß man ein Tintenfaß und einige Bogen Papier, vielleicht noch eine Anzahl Gedanken im Kopf haben. Um aber die Diktatur zu errichten und zu festigen, muß man die Bourgeoisie verhindern, die staatliche Macht des Proletariats zu untergraben. Kautsky nimmt offenbar an, daß dies durch weinerliche Broschüren zu erreichen sei. Seine eigene Erfahrung aber müßte ihm zeigen, daß es nicht genügt, den Einfluß auf das Proletariat zu verlieren, um den Einfluß auf die Bourgeoisie zu gewinnen.
Die Alleinherrschaft der Arbeiterklasse kann nur dadurch gesichert werden, daß man die ans Herrschen gewöhnte Bourgeoisie zu begreifen zwingt, daß es für sie gefährlich ist, sich gegen die Diktatur des Proletariats aufzulehnen und sie durch Sabotage, Verschwörungen, Aufstände mit Hilfe ausländischer Truppen untergraben zu wollen. Man muß die der Macht beraubte Bourgeoisie zwingen, zu gehorchen. Auf welche Weise? Die Pfaffen schreckten das Volk mit den Strafen des Jenseits. Solche Hilfsmittel stehen uns nicht zur Verfügung. Die Hölle der Pfaffen stand ja niemals isoliert da, sondern war mit dem materiellen Feuer der heiligen Inquisition, wie auch mit den Skorpionen des demokratischen Staates verbunden. Meint Kautsky vielleicht, daß man die Bourgeoisie mit Hilfe des kategorischen Imperativs zügeln könne, der in seinen letzten Schriften die Rolle des heiligen Geistes spielt? Nun er kann unserer praktischen Mithilfe sicher sein für den Fall, daß er sich entschließt, eine kantisch- humanitäre Mission in das Reich Denikins und Koltschaks zu entsenden. Auf jeden Fall würde er dort die Möglichkeit erlangen, sich davon zu überzeugen, daß die Gegenrevolutionäre von Natur nicht charakterlos sind, und daß ihr Charakter, dank dem sechsjährigen Aufenthalt im Feuer und Rauch des Krieges sich fester gestählt hat. Ein jeder Weißgardist hat sich die einfache Wahrheit zu eigen gemacht, daß es leichter sei, einen Kommunisten an einem Aste baumeln zu lassen, als ihn durch ein Buch Kautskys zur Einsicht zu bringen. Diese Herren hegen keine abergläubische Furcht, weder in bezug auf die Prinzipien der Demokratie, noch in bezug auf das Fegefeuer, um so mehr, da die Pfaffen der Kirche und der offiziellen Wissenschaft im Einverständnis mit ihnen handeln und ihre kombinierten Blitze ausschließlich auf die Häupter der Bolschewiki niedersausen lassen. Die russischen Weißgardisten sind den deutschen und allen anderen in der Beziehung ähnlich, daß man sie weder überzeugen noch beschämen, sondern nur in Schrecken versetzen und zermalmen kann.
Wer prinzipiell den Terrorismus, d. h. die Unterdrückungs- und Abschreckungsmaßnahmen in bezug auf die erbitterte und bewaffnete Gegenrevolution ablehnt, der muß auf die politische Herrschaft der Arbeiterklasse, auf ihre revolutionäre Diktatur verzichten. Wer auf die Diktatur des Proletariats verzichtet, der verzichtet auf die soziale Revolution und trägt den Sozialismus zu Grabe.

* * *

Irgendeine Theorie der sozialen Revolution ist bei Kautsky gegenwärtig nicht zu finden. Jedesmal, wenn er versucht, seine Verleumdungen der Revolution und der Diktatur des Proletariats zu verallgemeinern, trägt er aufgewärmte Vorurteile des Jaurèsismus und des Bernsteinianertums auf.
„Die Revolution von 1789 – schreibt Kautsky – hat selbst die wichtigsten Ursachen beseitigt, die ihr einen so grausamen und gewalttätigen Charakter gaben, und mildere Formen künftiger Revolutionen vorbereitet.“ (S. 97)
Nehmen wir an, daß dem so sei, obgleich man dann die Junitage von 1848 und die Schrecken der Unterdrückung der Kommune vergessen müßte. Nehmen wir an, daß die große Revolution des 18. Jahrhunderts, die durch die Maßnahmen des schonungslosen Terrors die Herrschaft des Absolutismus, des Feudalismus und des Klerikalismus beseitigte, in der Tat die Bedingungen einer friedlicheren und milderen Lösung der sozialen Fragen vorbereitet habe. Wenn man aber sogar diese rein liberale These anerkennt, so hat unser Ankläger doch durchaus unrecht; denn die russische Revolution, die mit der Diktatur des Proletariats endete, hat gerade mit der Arbeit begonnen, die in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts vollendet wurde. Unsere Vorfahren haben sich in den vergangenen Jahrhunderten nicht bemüht, durch den revolutionären Terror die demokratischen Bedingungen für die Milderung der Sitten unserer Revolution vorzubereiten. Der ethische Mandarin Kautsky täte gut, diesen Umstand in Betracht zu ziehen und nicht uns, sondern unsere Vorfahren anzuklagen.
Kautsky macht übrigens in dieser Richtung gleichsam ein kleines Zugeständnis.
„Wohl durfte kein Einsichtiger daran zweifeln, daß eine Militärmonarchie, wie die deutsche, österreichische, russische nur mit Gewaltmitteln zu stürzen sei, aber immer weniger dachte man (wer?) dabei an die blutige Gewalttätigkeit der Waffen, immer mehr an das dem Proletariat eigentümliche Machtmittel der Arbeitsverweigerung, den Massenstreik ... Aber daß sich erhebliche Teile des Proletariats, wenn es einmal an der Macht sei, wieder wie am Ende des 18. Jahrhunderts, in Blutvergießen, Rache und Wut austoben würden, das durfte man nicht erwarten. Das hätte die ganze Entwicklung auf den Kopf gestellt“. (S. 101)
Wie wir sehen, waren der Krieg und eine Reihe von Revolutionen nötig, um uns einen Blick in die Köpfe einiger der gelehrtesten Theoretiker tun und sehen zu lassen, wie es darin aussieht. Es stellt sich heraus: Kautsky glaubte zwar nicht, daß ein Romanow oder Hohenzoller durch Gespräche zu beseitigen war; zu gleicher Zeit aber nahm er ernsthaft an, daß man die militärische Monarchie durch den Generalstreik, d. h. durch die passive Manifestation gefalteter Hände, stürzen könne. Trotz der russischen Erfahrung von 1905 und der Weltdiskussion über diese Frage hat Kautsky, wie es sich herausstellt, die anarcho-reformistische Ansicht über den Generalstreik beibehalten. Wir könnten ihn auf die Seiten seiner eigenen Zeitschrift Die neue Zeit verweisen, wo vor 12 Jahren auseinandergesetzt wurde, daß der Generalstreik nur die Mobilisierung des Proletariats und seine Gegenüberstellung mit der ihm feindlichen Staatsgewalt sei, daß der Streik aber an und für sich die Aufgabe nicht lösen könne, denn er erschöpfe schneller die Kräfte des Proletariats als die seiner Feinde, wodurch die Arbeiter einen Tag später oder früher gezwungen würden, zu den Maschinen zurückzukehren. Der Generalstreik kann nur als Voraussetzung des Zusammenstoßes des Proletariats mit den bewaffneten Kräften der gegnerischen Seite, d. h. als Voraussetzung des offenen revolutionären Aufstandes der Arbeiter, eine entscheidende Bedeutung gewinnen. Nur nachdem sie den Willen der ihr gegenüberstehenden Armee gebrochen hat, kann die revolutionäre Klasse das Machtproblem, die grundlegende Frage einer jeden Revolution, lösen. Der Generalstreik führt zur Mobilisierung der Kräfte beider Seiten und stellt die Widerstandskraft der Gegenrevolution auf eine ernste Probe. Jedoch nur in der weiteren Entwicklung der Kämpfe, nach Betreten des Weges des bewaffneten Aufstandes, kann der blutige Preis festgestellt werden, den eine revolutionäre Klasse für die Macht zu zahlen haben wird. Daß aber die Zahlung in Blut wird erfolgen müssen, daß in dem Kampf um die Eroberung der Macht und um ihre Sicherung das Proletariat nicht nur zu sterben, sondern auch zu töten haben wird, – daran zweifelte kein einziger ernster Revolutionär. Die Behauptung, daß die Tatsache des auf Tod und Leben geführten Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie „die ganze Entwicklung auf den Kopf stelle“, zeigt nur, wie die Köpfe einiger verehrter Ideologen eine Camera obscura darstellen, in der die Dinge Kopf stehen.
Aber auch in bezug auf fortgeschrittenere Kulturländer mit alten demokratischen Ueberlieferungen ist die Richtigkeit der geschichtlichen These von Kautsky absolut durch nichts erwiesen. Uebrigens ist die These an sich nicht neu. Die Revisionisten verliehen ihr seinerzeit grundsätzliche Bedeutung. Sie bewiesen, daß das Wachstum proletarischer Organisationen unter demokratischen Verhältnissen den allmählichen und unbemerkbaren – reformistischen revolutionären – Uebergang zur sozialistischen Ordnung – ohne allgemeine Streiks und Aufstände, ohne die Diktatur des Proletariats – gewährleistet.
Damals, auf dem Höhepunkt seiner Tätigkeit, wies Kautsky nach, daß die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft sich, trotz der Formen der Demokratie, vertiefen, und daß dieser Prozeß unvermeidlich zur Revolution und zur Eroberung der Macht durch das Proletariat führen muß.
Es hat, versteht sich, niemand den Versuch unternommen, die Zahl der Opfer im voraus festzustellen, die durch den revolutionären Aufstand des Proletariats und die Herrschaft seiner Diktatur gebracht werden müssen. Es war jedoch für alle klar, daß die Anzahl der Opfer durch die Widerstandskraft der besitzenden Klassen bestimmt werden wird. Wenn Kautsky mit seinem Buche sagen will, daß die demokratische Erziehung den Klassenegoismus nicht gemildert hat, so kann man dem ohne weiteres zustimmen.
Wenn er hinzufügen will, daß der imperialistische Krieg, der trotz der Demokratie ausbrach und vier Jahre wütete, die Verwilderung der Sitten gefördert, an gewalttätige Handlungsweise gewöhnt und der Bourgeoisie es abgewöhnt habe, sich bei der Ausrottung von Menschenmassen zu genieren, – so wird er auch hierin recht haben. Dies alles verhält sich in der Tat so. Gekämpft muß aber unter den Bedingungen werden, wie sie vorhanden sind. Es kämpfen nicht der proletarische mit dem bürgerlichen Homunkulus, die der Retorte des Wagner-Kautsky entstiegen sind, sondern das reale Proletariat gegen die reale Bourgeoisie, wie sie aus dem letzten imperialistischen Blutbad hervorgegangen sind.
In dieser Tatsache des sich in der ganzen Welt entwickelnden schonungslosen Bürgerkrieges sieht Kautsky das Resultat ... der verderblichen Lossagung von „der erprobten siegreichen Taktik“ der Zweiten Internationale.
„In der Tat ist – schreibt er – seitdem der Marxismus die sozialistische Bewegung beherrscht, diese bis zum Weltkrieg fast bei jeder ihrer bewußten großen Bewegungen vor einer großen Niederlage bewahrt geblieben, und der Gedanke, sich durch eine Schreckensherrschaft durchzusetzen, war aus ihren Reihen vollständig verschwunden.
Viel trug dazu der Umstand bei, daß in derselben Zeit, in der der Marxismus die herrschende sozialistische Lehre wurde, die Demokratie sich in Westeuropa einwurzelte und dort begann, aus einem Kampfobjekt eine feste Basis des politischen Lebens zu werden.“ (S. 100)
In dieser „Formel des Fortschritts“ ist kein Atom von Marxismus; der reale Prozeß des Klassenkampfes, der materiellen Zusammenstöße der Klassen ist in marxistische Propaganda aufgelöst, die dank den Bedingungen der Demokratie angeblich die Schmerzlosigkeit des Ueberganges zu neuen, „verständigeren“ Formen der Gesellschaft sicherstelle. Das ist die vulgärste Aufklärerei, ein verspäteter Rationalismus im Geiste des 18. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, daß die Ideen Condorcets durch eine Vulgarisierung des Kommunistischen Manifestes ersetzt sind. Die ganze Geschichte wird zu einem ununterbrochenen Streifen Druckpapier und als Zentrum dieses humanen Prozesses erweist sich der verdienstvolle Schreibtisch Kautskys.
Man stellt uns die Arbeiterbewegung der Epoche der Zweiten Internationale als Beispiel hin; diese Bewegung, die sich unter dem Banner des Marxismus vollzogen habe, habe bei ihren bewußten Aktionen keine großen Niederlagen erlitten. Aber die Arbeiterbewegung, das gesamte Weltproletariat und mit ihm die ganze menschliche Kultur haben eine unermeßliche Niederlage im August 1914 erlitten, als die Geschichte aus allen Kräften und Fähigkeiten der sozialistischen Parteien, unter denen die führende Rolle angeblich dem Marxismus, auf „fester Grundlage der Demokratie“, gehörte, die Bilanz zog. Diese Parteien erwiesen sich als bankerott. Die Eigenschaften ihrer vorhergegangenen Arbeit, die Kautsky jetzt verewigen möchte: Anpassungsfähigkeit, Verzicht auf „illegale Aktionen“, Vermeiden des offenen Kampfes, die Hoffnungen auf die Demokratie als den Weg zu schmerzlosem Umsturz – das alles ist zunichte geworden. Eine Niederlage fürchtend, die Massen unter allen Umständen vom offenen Kampfe zurückhaltend, den Generalstreik in Diskussionen auflösend, bereiteten die Parteien der Zweiten Internationale ihre erschreckende Niederlage vor, denn sie vermochten nicht einen Finger zu rühren, um die größte Katastrophe der Weltgeschichte: das vierjährige imperialistische Blutbad, das den erbitterten Charakter des Bürgerkrieges vorausbestimmte, zu verhindern. Man muß wahrlich eine wattierte Kappe nicht nur über die Augen, sondern auch über Nase und Ohren haben, um uns jetzt, nach dem ruhmlosen Zusammenbruch der Zweiten Internationale, nach dem schimpflichen Bankrott ihrer führenden Partei, der deutschen Sozialdemokratie, nach dem blutigen Blödsinn des Weltblutbades und der gigantischen Wucht des Bürgerkrieges, den Tiefsinn, die Loyalität, die Friedfertigkeit und die Besonnenheit der Zweiten Internationale, deren Vermächtnis wir jetzt liquidieren, entgegenzustellen!

Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Demokratie

„Entweder Demokratie oder Bürgerkrieg“

Kautsky hat einen klaren und einzigen Rettungsweg: Die Demokratie. Es sei nur nötig, daß alle sie anerkennen und sich ihr unterordnen. Die rechten Sozialisten müßten die blutigen Gewalttaten aufgeben, die sie dem Willen der Bourgeoisie gemäß ausführen. Die Bourgeoisie selbst müsse dem Gedanken entsagen, mit Hilfe ihrer Noske und Leutnant Vogel ihre privilegierte Stellung bis zu Ende zu verteidigen. Endlich müsse das Proletariat ein für alle Mal dem Gedanken entsagen, die Bourgeoisie durch andere Mittel zu stürzen als diejenigen, die von der Verfassung vorgesehen sind. Bei der Befolgung der aufgezählten Bedingungen werde die soziale Revolution sich schmerzlos in Demokratie auf lösen. Für den Erfolg genügt es, wie wir sehen, daß unsere stürmische Geschichte sich eine Nachtmütze auf den Kopf setzt und die Weisheit der Tabaksdose Kautskys entnimmt.
,,Es gibt nur die beiden Möglichkeiten“: – prägt uns der Weise ein – „entweder Demokratie oder Bürgerkrieg.“ (S. 145) Aber in Deutschland, wo die formalen Elemente der Demokratie vorhanden sind, hört der Bürgerkrieg auch nicht für eine Stunde auf.
„Sicher“, gibt Kautsky zu, „kann unter der gegenwärtigen Nationalversammlung Deutschland nicht gesunden. Der Gesundungsprozeß wird aber nicht gefördert, sondern gehemmt, wenn man aus dem Kampf gegen die bestehende Versammlung einen Kampf gegen die Demokratie, das allgemeine Wahlrecht macht.“ (S. 152)
Als ob es sich in der Tat in Deutschland um die Form des Wahlrechts und nicht um den realen Besitz der Macht handelte.
Die gegenwärtige Nationalversammlung, gibt Kautsky zu, ist nicht fähig, das Land zur Gesundung zu bringen. Also? Also beginnen wir das Spiel von neuem. Werden aber die Partner einwilligen? Das ist zweifelhaft. Wenn die Partie unvorteilhaft für uns ist, so ist sie offenbar vorteilhaft für sie. Die Nationalversammlung, die nicht fähig ist, das Land der Genesung entgegenzuführen, ist durchaus fähig, durch die Zwischendiktatur Noskes die „ernste“ Diktatur Ludendorffs vorzubereiten. So war es mit der Konstituierenden Versammlung, die für Koltschak vorarbeitete. Die historische Bestimmung Kautskys besteht gerade darin, den Umsturz abzuwarten und dann seine n+1. Broschüre zu schreiben, die den Zusammenbruch der Revolution an Hand des ganzen Ganges der bisherigen Geschichte, vom Affen bis zu Noske und von Noske bis zu Ludendorff, erklären wird. Die Aufgabe einer revolutionären Partei ist eine andere: sie besteht darin, die Gefahren vorauszusehen und ihnen durch die Tat vorzubeugen. Dazu aber gibt es augenscheinlich keinen anderen Weg, als die Macht den Händen der wirklichen Machthaber, der Agrarier und Kapitalisten, zu entreißen, die sich nur hinter den Herren Ebert und Noske verstecken. Auf diese Weise teilt sich der historische Weg bei der gegenwärtigen Nationalversammlung in zwei Richtungen: er führt entweder zur Diktatur der imperialistischen Clique oder zur Diktatur des Proletariats. Zur „Demokratie“ führt er von keiner Seite. Kautsky sieht dies nicht. Mit vielen Worten erklärt er uns, daß die Demokratie für die politische Entwicklung und die organisatorische Erziehung der Massen von großer Bedeutung sei und daß das Proletariat durch sie zur vollen Befreiung gelangen könne. (S. 72) Man möchte annehmen, daß seit der Zeit des Erfurter Programms auf der Welt nichts geschehen sei, was der Aufmerksamkeit würdig wäre!
Indessen, im Laufe von Jahrzehnten kämpfte und entwickelte sich das Proletariat Frankreichs, Deutschlands und der anderen wichtigsten Länder, indem es die Institutionen der Demokratie ausnutzte und auf ihrer Grundlage machtvolle politische Organisationen schuf. Dieser Weg der Erziehung des Proletariats durch die Demokratie zum Sozialismus wurde jedoch durch ein nicht unwichtiges Ereignis – den imperialistischen Weltkrieg – unterbrochen. Dem Klassenstaat war es gelungen, im Augenblick, wo durch seine Schuld der Krieg ausbrach, das Proletariat mit Hilfe der leitenden Organisationen der sozialistischen Demokratie zu betrügen und auf seine Bahn zu ziehen. Auf diese Weise offenbarten die Methoden der Demokratie an und für sich, bei all den unbestreitbaren Vorteilen, die sie in einer gewissen Periode gewährten, eine beschränkte Aktionskraft, so daß die Erziehung zweier Generationen des Proletariats unter den Bedingungen der Demokratie durchaus nicht die notwendige politische Vorbereitung sicherte für die Abschätzung eines Ereignisses wie der imperialistische Krieg es war. Die Erfahrung gibt gar keine Veranlassung zu der Annahme, daß das Proletariat politisch besser vorbereitet gewesen wäre, wenn der Krieg zehn oder fünfzehn Jahre später ausgebrochen wäre. Der bürgerlich-demokratische Staat schafft nicht nur im Vergleich zum Absolutismus günstigere Bedingungen für die Entwicklung der Werktätigen, sondern er beschränkt auch diese Entwicklung durch die Grenzen der bürgerlichen Legalität, indem er in den Oberschichten des Proletariats opportunistische Gewohnheiten und legalistische Vorurteile künstlich anhäuft und befestigt. Die Schule der Demokratie erwies sich als vollständig unzureichend, um in dem Augenblick, als die Kriegskatastrophe drohte, das deutsche Proletariat zur Revolution anzuspornen. Dazu war die barbarische Schule des Krieges, der sozialimperialistischen Hoffnungen, der größten militärischen Erfolge und einer beispiellosen Niederlage nötig. Nach diesen Ereignissen, die in der ganzen Welt und sogar im Erfurter Programm manches verändert haben, mit Gemeinplätzen über die Bedeutung des demokratischen Parlamentarismus für die Erziehung des Proletariats zu kommen, heißt in politische Kindheit zurückfallen. Darin besteht eben das Unglück Kautskys.
„Ein tiefes Mißtrauen gegen den politischen Befreiungskampf des Proletariats, – schreibt er – gegen seine Teilnahme an der Politik beseelte den Proudhonismus. Heute kommen wieder ähnliche (!!) Gedankengänge auf und werden uns präsentiert als die neuesten Errungenschaften sozialistischen Denkens, als Produkte von Erfahrungen, die Marx nicht kannte und nicht kennen konnte. Und doch sind es nur neue Variationen von Gedanken, die über ein halbes Jahrhundert alt sind, und die Marx selbst bekämpfte und überwand.“ (S. 58)
Der Bolschewismus erweist sich als ... aufgewärmter Proudhonismus! In rein theoretischer Beziehung ist dies eine der schamlosesten Behauptungen der Broschüre.
Die Proudhonisten verwarfen die Demokratie aus demselben Grunde, aus dem sie den politischen Kampf überhaupt verwarfen. Sie waren für die wirtschaftliche Organisation der Arbeiter ohne Einmischung der Staatsgewalt, ohne revolutionäre Umwälzungen, für die Selbsthilfe der Arbeiter auf der Grundlage der Warenwirtschaft. Soweit sie durch den Gang der Ereignisse auf den Weg des politischen Kampfes gestoßen wurden, zogen sie, als kleinbürgerliche; Ideologen, die Demokratie nicht nur der Plutokratie, sondern auch der revolutionären Diktatur vor. Ist hier etwas Gemeinsames mit uns? Während wir die Demokratie im Namen der konzentrierten Macht des Proletariats ablehnen, waren die Proudhonisten im Gegenteil bereit, sich mit der durch das föderative Prinzip verdünnten Demokratie auszusöhnen, um die revolutionäre Alleinherrschaft der Arbeiterklasse zu vermeiden. Mit weit größerer Berechtigung könnte Kautsky uns mit den Gegnern der Proudhonisten, den Blanquisten, vergleichen, die die Bedeutung der revolutionären Macht begriffen und die Eroberung dieser Macht nicht abergläubisch in Abhängigkeit von formalen Merkmalen der Demokratie brachten. Um aber dem Vergleich der Kommunisten mit den Blanquisten den rechten Sinn zu geben, müßte man hinzufügen, daß wir in der Person der Arbeiter- und Soldatenräte über eine solche Organisation der Umwälzung verfügten, von der die Blanquisten nicht träumen konnten; in unserer Partei hatten und haben wir eine unersetzliche Organisation politischer Fühlung mit einem vollendeten Programm der sozialen Revolution; endlich waren und bleiben die Gewerkschaftsverbände, die voll und ganz unter der Fahne des Kommunismus stehen und die Sowjetmacht unterstützen, ein mächtiger Apparat wirtschaftlicher Umgestaltungen. Unter diesen Bedingungen davon sprechen, daß der Bolschewismus die Vorurteile des Proudhonismus wiederhergestellt habe, das kann nur, wer den letzten Rest theoretischer Gewissenhaftigkeit und historischer Einsicht verloren hat.
 

Die imperialistische Entartung der Demokratie

Nicht ohne Grund hat das Wort „Demokratie“ im politischen Wörterbuch eine doppelte Bedeutung. Einerseits bedeutet es das staatliche Regime, das sich auf das allgemeine Wahlrecht und andere Attribute der formalen „Selbstherrschaft des Volkes“ gründet. Andererseits versteht man unter Demokratie die Volksmassen selbst, soweit sie ein politisches Leben führen, wobei in diesem zweiten wie im ersten Sinne der Begriff der Demokratie sich über die Klassenunterschiede erhebt.
Diese Eigentümlichkeiten der Terminologie sind politisch tief begründet. Die Demokratie als politisches Regime ist desto widerstandsfähiger, vollkommener, unerschütterlicher, je mehr Platz im Leben des Landes die im Klassensinne wenig differenzierte Zwischenmasse der Bevölkerung, das Kleinbürgertum in Stadt und Land, einnimmt. Zu ihrer höchsten Blüte gelangte die Demokratie im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten Nordamerikas und der Schweiz. Jenseits des Ozeans stützte sich die staatliche Demokratie der föderativen Republik auf die Agrardemokratie der Farmer. In der kleinen helvetischen Republik bildeten das Kleinbürgertum der Städte und die starke Bauernschaft die Basis der konservativen Demokratie der vereinigten Kantone.
Der aus dem Kampf des dritten Standes gegen die Kräfte des Feudalismus hervorgegangene demokratische Staat wird sehr bald ein Werkzeug der Gegenwirkung auf die Klassengegensätze, die sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln. Die bürgerliche Demokratie hat darin desto mehr Erfolg, je breiter unter ihr die Schicht des Kleinbürgertums, je größer die Bedeutung des letzteren im wirtschaftlichen Leben des Landes, je geringer also die Entwicklung der Klassengegensätze ist. Jedoch, je weiter desto hoffnungsloser blieben die Zwischenklassen hinter der historischen Entwicklung zurück und desto mehr wurden sie der Möglichkeit beraubt, im Namen der Nation zu sprechen. Freilich, kleinbürgerliche Doktrinäre (Bernstein u. Co.) bewiesen mit Genugtuung, daß das Verschwinden der kleinbürgerlichen Massen nicht mit der Schnelligkeit vor sich gehe, wie dies von der Schule von Marx vorausgesetzt worden ist. Man kann in der Tat dem zustimmen, daß die kleinbürgerlichen Elemente der Stadt und besonders des Dorfes ihrer Zahl nach noch immer einen außerordentlich großen Platz einnehmen. Aber der Hauptinhalt der Entwicklung zeigte sich darin, daß das Kleinbürgertum seine Bedeutung in der Produktion verlor: die Wertmenge, die diese Klasse in den Gesamtertrag der Nation bringt, sank ungleich schneller als die Quantität des Kleinbürgertums. Dementsprechend sank ihre soziale, politische und kulturelle Bedeutung. Die historische Entwicklung stützte sich immer mehr nicht auf diese von der Vergangenheit übernommenen konservativen Schichten, sondern auf die Polarklassen der Gesellschaft, d. h. auf die kapitalistische Bourgeoisie und auf das Proletariat.
Je mehr das Kleinbürgertum seine Bedeutung verlor, desto weniger war es fähig, die Rolle des Schiedsrichters in dem historischen Rechtsstreit zwischen Kapital und Arbeit zu spielen. Unterdessen fuhr eine bedeutende Menge des städtischen Bürgertums und besonders der Bauernschaft fort, ihren unmittelbaren Ausdruck in der Wahlstatistik des Parlamentarismus zu finden. Die formale Gleichheit aller Bürger als Wähler gab hierbei der Unfähigkeit des „demokratischen Parlamentarismus“, die fundamentalen Fragen der historischen Entwicklung zu lösen, nur offenen Ausdruck. Die „gleiche“ Stimme für den Proletarier, den Bauern und den Leiter des Trusts brachte den Bauer formell in die Lage des Vermittlers zwischen diesen beiden Antagonisten. In Wirklichkeit gab die sozial und kulturell rückständige, politisch hilflose Bauernschaft in allen Ländern die Stütze für die reaktionärsten, abenteuerlichsten, absurdesten und korruptesten Parteien ab, die letzten Endes immer das Kapital gegen die Arbeit unterstützten.
Allen Prophezeiungen Bernsteins, Sombarts, Tugan-Baronowskys direkt zum Trotz hat die Zähigkeit der Zwischenklassen die revolutionäre Krisis der bürgerlichen Gesellschaft nicht gemildert, sondern bis aufs Aeußerste verschärft. Würde sich die Proletarisierung des Kleinbürgertums und der Bauernschaft in chemisch reiner Form vollziehen, so würde die friedliche Eroberung der Macht durch das Proletariat vermittelst des demokratisch parlamentarischen Apparats viel wahrscheinlicher sein, als es jetzt der Fall ist. Gerade die Tatsache, an die sich die Anhänger des Kleinbürgertums klammerten, – die Lebenskraft des Kleinbürgertums – erwies sich sogar für die äußeren Formen der politischen Demokratie, nachdem der Kapitalismus ihr Wesen untergraben hatte, als verhängnisvoll. Dadurch, daß das Kleinbürgertum in der parlamentarischen Politik die Stelle einnahm, die es in der Produktion verloren hatte, kompromittierte es den Parlamentarismus endgültig, nachdem es ihn in eine Institution verwirrten Geschwätzes und gesetzgeberischer Obstruktion verwandelt hatte. Schon daraus allein erwuchs dem Proletariat die Aufgabe, den Apparat der Staatsmacht in seine Gewalt zu bringen, unabhängig von dem Kleinbürgertum und sogar gegen dasselbe, – nicht gegen seine Interessen, sondern gegen seinen Stumpfsinn, gegen seine in ihrem kraftlosen Hin- und Herschwanken nicht zu erfassende Politik.
„Der Imperialismus – schrieb Marx über das Kaiserreich Napoleons III. – ist die prostituierteste und zugleich endgültige Form, der Staatsgewalt, die ... die zur vollen Entwicklung gelangte Bourgeoisie in ein Werkzeug zur Unterjochung der Arbeit durch das Kapital verwandelt hat.“
Diese Definition geht über das Regime des französischen Kaiserreichs hinaus und umfaßt den neuesten Imperialismus, der von den Weltansprüchen des nationalen Kapitals der Großmächte erzeugt ist. Auf wirtschaftlichem Gebiet setzte der Imperialismus den endgültigen Fall der Rolle des Kleinbürgertums voraus; auf politischem Gebiet bedeutete er die volle Vernichtung der Demokratie vermittelst ihrer innerlichen Molekularumarbeitung und allseitigen Unterordnung aller ihrer Mittel und Institutionen unter seine Ziele. Nachdem er alle Länder, unabhängig von ihrem vorhergehenden politischen Schicksal, umfaßt hatte, bewies der Kapitalismus, daß ihm irgendwelche politischen Vorurteile fremd sind, daß er in gleicher Weise bereit und fähig ist, nach vorheriger sozialer Umgestaltung und nach völliger Unterwerfung die Monarchie Nikolai Romanows oder Wilhelm Hohenzollerns, die Selbstherrschaft des Präsidenten der Nordamerikanischen Staaten und die Hilflosigkeit einiger Hundert Auch-Gesetzgeber des französischen Parlaments auszunutzen. Das letzte große Morden – das blutige Becken, in dem sich die bürgerliche Welt zu erneuern versuchte – zeigte uns das Bild einer in der Geschichte noch nie dagewesenen Mobilisierung aller Staatsformen, Verwaltungssysteme, politischen Richtungen, Religionen und philosophischen Schulen im Dienst des Imperialismus. Sogar viele von jenen Pedanten, die die vorbereitende Periode der imperialistischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte verschlafen hatten und fortfuhren, sich zu den Begriffen der Demokratie, des allgemeinen Wahlrechts und dergl. ihrem überlieferten Sinne nach zu verhalten, begannen während des Krieges zu fühlen, daß die gewohnten Begriffe einen neuen Inhalt bekommen hatten. Absolutismus, parlamentarische Monarchie, Demokratie! Vor dem Antlitz des Imperialismus – folglich auch vor dem Antlitz der ihn ablösenden Revolution – sind alle Staatsformen der bürgerlichen Herrschaft, vom russischen Zarismus bis zum nordamerikanischen quasi-demokratischen Föderalismus gleichberechtigt und zu solchen Kombinationen verbunden, bei denen sie einander unteilbar ergänzen. Dem Imperialismus gelang es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, darunter auch durch das Parlament, unabhängig von der Wahlarithmetik der Stimmen, sich im kritischen Augenblick dies Kleinbürgertum der Städte und der Dörfer und sogar die Oberschichten des Proletariats vollständig unterzuordnen. Die nationale Idee, unter deren Zeichen sich der dritte Stand zur Macht erhoben hatte, fand im imperialistischen Kriege ihre Wiedergeburt in der Losung der nationalen Verteidigung. Mit unerwarteter Helle leuchtete zum letzten Male die nationale Ideologie auf Kosten der Klassenideologie auf. Der Zusammenbruch der imperialistischen Illusionen knickte nicht nur bei den Besiegten, sondern mit einiger Verspätung auch bei den Siegern, endgültig alles das, was einst nationale Demokratie war, und mit ihr – ihr Hauptwerkzeug, das demokratische Parlament. Die Welkheit, Erbärmlichkeit und Hilflosigkeit des Kleinbürgertums und seiner Parteien traten überall mit erschreckender Klarheit zutage. In allen Ländern wurde die Frage der Staatsgewalt in aller Schärfe gestellt als eine Frage der Kräftemessung zwischen der offen oder verhüllt herrschenden kapitalistischen Clique, der Hunderttausende dressierter, gestählter und vor nichts zurückschreckender Offiziere zur Verfügung stehen, und zwischen dem aufständischen revolutionären Proletariat – bei Schreck, Verwirrung und Ohnmacht der Zwischenklassen. Unter diesen Bedingungen ist das Gerede über die friedliche Eroberung der Macht durch das Proletariat vermittelst des demokratischen Parlamentarismus nichts als elendes Geschwätz.
Das Schema der politischen Lage im Weltumfange ist vollständig klar. Nachdem sie die verblutenden und erschöpften Völker an den Rand des Unterganges gebracht hatte, offenbarte die Bourgeoisie ihre volle Unfähigkeit, diese Völker aus der schrecklichen Lage zu befreien, wie ihre Unvereinbarkeit mit der weiteren Entwicklung der Menschheit. Alle politischen Zwischengruppierungen, in erster Linie die sozialpatriotischen Parteien, verfaulen bei lebendigem Leibe. Das von ihnen betrogene Proletariat wendet sich mit jedem Tage mehr gegen sie und befestigt sich in seinem revolutionären Beruf als einzige Kraft, die die Völker vor der Verwilderung und dem Untergang retten kann. Doch die Geschichte hatte für diesen Augenblick der Partei der sozialen Revolution die formelle parlamentarische Mehrheit durchaus nicht gesichert. Mit anderen Worten, die Geschichte hatte die Nation nicht in einen Diskutierklub verwandelt, der sittsam den Uebergang zur sozialen Revolution durch Stimmenmehrheit beschließt. Im Gegenteil, die gewaltsame Revolution wurde eben deshalb zur Notwendigkeit, weil die dringenden Bedürfnisse der Geschichte sich als machtlos erwiesen, sich den Weg vermittelst des Apparats der parlamentarischen Demokratie zu bahnen. Die kapitalistische Bourgeoisie kalkuliert: „Solange in meinen Händen der Grund und Boden, die Fabriken, Werke, Banken sind, solange ich die Zeitungen, Universitäten und Schulen beherrsche, solange – und dies ist die Hauptsache – in meinen Händen die Leitung der Armee liegt, solange wird der Apparat der Demokratie, wie ihr ihn auch umbauen mögt, meinem Willen untertan bleiben. Ich unterwerfe mir geistig das stumpfsinnige, konservative, willenlose Kleinbürgertum, wie es mir materiell untergeordnet ist. Ich unterdrücke es und werde seine Einbildungskraft durch die Macht meiner Gewinne, meiner Pläne und meiner Verbrechen bannen. In den Momenten seiner Unzufriedenheit werde ich Sicherheitsventile und Blitzableiter schaffen. Ich werde im nötigen Moment Oppositionsparteien schaffen, die morgen verschwinden, heute aber ihrer Aufgabe dadurch gerecht werden, daß sie dem Kleinbürgertum die Möglichkeit geben, seine Empörung ohne Schaden für den Kapitalismus zum Ausdruck zu bringen. Ich werde die Volksmassen bei dem Regime der allgemeinen Schulpflicht an der Grenze der vollständigen Unwissenheit erhalten und ihnen nicht erlauben, sich über die Stufe zu erheben, die meine Sachverständigen als ungefährlich für die geistige Sklaverei ansehen werden. Ich werde die privilegierten oder rückständigeren Schichten des Proletariats selbst demoralisieren, betrügen und einschüchtern. Durch die Gesamtheit aller dieser Maßnahmen werde ich dem Vortrupp der Arbeiterklasse nicht gestatten, das Bewußtsein der Mehrheit des Volkes zu beherrschen, solange die Unterdrückungs- und Einschüchterungswerkzeuge in meinen Händen bleiben werden.
Darauf antwortet das revolutionäre Proletariat:
„Folglich müssen als erste Bedingung zur Rettung den Händen der Bourgeoisie die Werkzeuge der Herrschaft entrissen werden. Aussichtslos ist der Gedanke, friedlich zur Macht zu gelangen, solange sich in den Händen der Bourgeoisie alle Werkzeuge der Herrschaft befinden. Doppelt aussichtslos ist der Gedanke, auf dem Wege zur Macht zu gelangen, den die Bourgeoisie selbst weist und den sie zu gleicher Zeit versperrt, – auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie. Es gibt nur einen Weg: der Bourgeoisie die Macht, den materiellen Apparat der Herrschaft zu entreißen. Unabhängig von dem oberflächlichen Kräfteverhältnis im Parlament, werde ich die wichtigsten Produktionskräfte und -mittel in gesellschaftliche Verwaltung nehmen. Ich werde das Bewußtsein der kleinbürgerlichen Klassen von der kapitalistischen Hypnose befreien. Ich werde ihnen durch die Tat zeigen, was sozialistische Produktion bedeutet. Dann werden mich die rückständigsten, unwissendsten oder eingeschüchtertsten Schichten des Volkes unterstützen und sich freiwillig und bewußt der Arbeit des sozialistischen Aufbaues anschließen.“
Als die russische Sowjetregierung die Konstituierende Versammlung gesprengt hatte, erschien diese Tatsache den leitenden westeuropäischen Sozialdemokraten, wenn nicht als Anfang des Weltunterganges, so doch auf jeden Fall als grober und willkürlicher Bruch mit der ganzen vorhergegangenen Entwicklung des Sozialismus. Es war indessen nur die unvermeidliche Schlußfolgerung aus der neuen Lage, die der Imperialismus und der Krieg vorbereitet hatten.
Zog der russische Kommunismus als erster die theoretische und praktische Bilanz, so geschah das aus denselben historischen Gründen, aus denen das russische Proletariat als erstes gezwungen war, den Weg des Kampfes um die Macht zu betreten.
Alles, was sich nachher in Europa abspielte, beweist, daß der Schluß richtig gezogen war. Anzunehmen, daß es möglich sei, die Demokratie in ihrer Reinheit wiederherzustellen, heißt, sich von jämmerlichen Utopien nähren.
 

Die Metaphysik der Demokratie

Das Wanken des historischen Bodens in der Frage der Demokratie unter seinen Füßen fühlend, geht Kautsky auf den Boden der Normenphilosophie über. Anstatt zu untersuchen, was ist, stellt er Betrachtungen darüber an, was sein sollte.
Die Prinzipien der Demokratie – die Volkssouveränität, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, die Freiheiten – treten bei ihm im Glorienschein des ethischen Soll auf. Sie werden von ihrem geschichtlichen Inhalt abstrahiert und werden als unerschütterlich und heilig an sich dargestellt. Dieser metaphysische Sündenfall ist nicht zufällig. Es ist höchst lehrreich, daß auch der verstorbene Plechanow, ein schonungsloser Gegner des Kantianertums im Lauf des besten Abschnitts seiner Tätigkeit, gegen Ende seines Lebens, als die Woge des Patriotismus über ihm zusammenschlug, sich an den Strohhalm des kategorischen Imperativs zu klammern versuchte.
Dieser realen Demokratie, mit der das deutsche Volk nun auf dem Wege der Erfahrung die Bekanntschaft macht, stellt Kautsky irgendeine ideelle Demokratie gegenüber, wie dem gemeinen Phänomen das Ding an sich gegenübergestellt wird. Kautsky weist mit Bestimmtheit auf kein einziges Land hin, dessen Demokratie wirklich imstande wäre, den schmerzlosen Uebergang zum Sozialismus zu sichern. Dafür weiß er aber ganz fest, daß es eine solche Demokratie geben muß. Der heutigen deutschen Nationalversammlung, diesem Organ der Hilflosigkeit, des reaktionären Ingrimms und des demütigen Kriechertums, stellt Kautsky eine andere, eine echte Nationalversammlung entgegen, die alle Vorzüge hat außer des kleinen – der Wirklichkeit.
Als Doktrin der formalen Demokratie erscheint nicht der wissenschaftliche Sozialismus, sondern die Theorie des sogen. Naturrechts. Das Wesen der letzteren besteht in der Anerkennung von ewigen und unabänderlichen Rechtsnormen, die bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Epochen mehr oder weniger beschränkt und entstellt zum Ausdruck kommen. Das Naturrecht der neuen Geschichte, d. h. so wie es aus dem Mittelalter herüberkam, enthielt vor allem den Protest gegen Standesprivilege, Mißbräuche der despotischen Gesetzgebung und andere „künstliche Produkte“ des feudalen positiven Rechts. Die Ideologen des noch zu schwachen dritten Standes gaben seinen Klasseninteressen in einigen ideellen Normen Ausdruck, die in der weiteren Entwicklung sich zur Lehre von der Demokratie entfalteten und dabei einen individualistischen Charakter gewannen. Das Individuum ist das Ziel an sich, alle Menschen haben das Recht, ihre Gedanken in Wort und Schrift zu äußern, ein jeder Mensch muß sich eines gleichen Wahlrechts erfreuen. Als Kampfbanner im Kampf gegen den Feudalismus waren die Forderungen der Demokratie von fortschrittlicher Bedeutung. Je weiter aber, desto mehr kehrte die Metaphysik des Naturrechts (gleich der Theorie der formalen Demokratie) ihre reaktionäre Seite hervor: die Errichtung einer Kontrolle der idealen Norm über die realen Forderungen der Arbeitermassen und der revolutionären Parteien.
Wenn man auf die geschichtliche Aufeinanderfolge der Weltanschauungen zurückblickt, so wird die Theorie des Naturrechts als ein von der groben Mystik geläuterter Abklatsch des christlichen Spiritualismus erscheinen. Das neue Testament erklärte dem Sklaven, daß er dieselbe Seele habe, wie der Sklavenhalter und ordnete somit die Gleichheit aller Menschen vor dem himmlischen Tribunal an. In Wirklichkeit blieb aber der Sklave Sklave, und der Gehorsam wurde ihm zur religiösen Pflicht gemacht. In der Lehre des Christentums fand der Sklave den mystischen Ausdruck für seinen eigenen unklaren Protest gegen seine unterdrückte Lage. Neben dem Protest fand er auch den Trost. Das Christentum sagte ihm: „Du hast eine unsterbliche Seele, wenn du auch einem Lasttier ähnlich bist.“ Hier klang der Ton der Empörung heraus. Dasselbe Christentum sagte aber: „Magst du auch einem Lasttiere ähnlich sein, deiner unsterblichen Seele ist die ewige Belohnung vorbehalten.“ Es ist hier die Stimme des Trostes herauszuhören. Diese beiden Töne klangen im geschichtlichen Christentum in den verschiedenen Epochen und bei verschiedenen Klassen auf verschiedene Weise zusammen. Im allgemeinen aber wurde das Christentum ähnlich wie alle anderen Religionen zum Werkzeug der Einschläferung des Bewußtseins der geknechteten Massen.
Das Naturrecht, als es sich zur Theorie der Demokratie entwickelte, sagte dem Arbeiter: Alle Menschen sind gleich vor dem Gesetze, ganz abgesehen von ihrer Herkunft, ihrer Vermögenslage und der von ihnen gespielten Rolle, ein jeder hat das gleiche Stimmrecht bei der Entscheidung der Volksgeschicke. Diese ideelle Norm revolutionierte die Erkenntnis der Massen insofern, als sie die Verurteilung des Absolutismus, der aristokratischen Privilegien und der Vorrechte des Besitzes enthielt. Je weiter aber, desto mehr schläferte sie die Erkenntnis ein, indem sie die Not, die Sklaverei und die Demütigung legalisierte, denn wie konnte man sich gegen die Knechtung empören, wenn ein jeder das gleiche Stimmrecht in der Bestimmung der Volksgeschicke hat?
Rothschild, der das Blut und die Tränen der Welt in das Gold seiner Profite ummünzt, hat eine Stimme bei den Parlamentswählen. Der dunkle Erdarbeiter, der seinen Namen nicht zu zeichnen versteht, der sich sein Leben lang ohne sich auszukleiden schlafen legt und wie ein lichtscheuer Maulwurf unter den Menschen herumirrt, erscheint doch als Träger der Volkssouveränität und ist dem Rothschild vor Gericht und bei den Parlamentswahlen gleich. In den realen Lebensbedingungen, im wirtschaftlichen Prozeß, in den sozialen Verhältnissen, im Alltag wurden die Menschen immer mehr und mehr ungleich: die Anhäufung einer berückenden Pracht auf dem einen Pol, Elend und Hoffnungslosigkeit auf dem andern. Aber auf dem Gebiet des staatsrechtlichen Ueberbaues verschwanden diese klaffenden Gegensätze; dorthin gelangten bloß juristische Schatten ohne Fleisch und Blut. Der Junker, der Tagelöhner, der Kapitalist, der Proletarier, der Minister, der Stiefelputzer, – alle sind gleich, als „Bürger“, als „Gesetzgeber“. Die mystische Gleichheit des Christentums ist vom Himmel gestiegen in Form der naturrechtlichen Gleichheit der Demokratie. Sie ist aber nicht bis zur Erde gekommen, bis zur wirtschaftlichen Grundlage der Gesellschaft. Für den dunklen Tagelöhner, der sein Leben lang ein Lasttier im Dienste der Bourgeoisie geblieben ist, war das ideelle Recht, vermittelst der Parlamentswahlen auf die Volksgeschicke einzuwirken, nicht um vieles realer, als die Seligkeit, die ihm im Himmelreich in Aussicht gestellt wurde.
Die praktischen Interessen der Arbeiterklassen verfolgend, betrat die sozialistische Partei in einer gewissen Epoche den Weg des Parlamentarismus. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß sie die metaphysische Theorie der Demokratie prinzipiell anerkannte, die auf den Grundlagen des überhistorischen, über den Klassen stehenden Rechts beruhte. Die proletarische Doktrin betrachtete die Demokratie als Hilfsinstrument der bürgerlichen Gesellschaft, das den Aufgaben und Bedürfnissen der herrschenden Klassen vollkommen angepaßt war. Da aber die bürgerliche Gesellschaft von der Arbeit des Proletariats lebte und es nicht vermochte, ihm die Legalisierung eines gewissen Teiles seines Klassenkampfes zu verweigern, ohne sich ins eigene Fleisch zu schneiden, so eröffnete sich für die sozialistische Partei die Möglichkeit, die Maschinerie der Demokratie in einer gewissen Periode und in gewissen Grenzen auszunutzen, ohne jedoch auf die Demokratie als unwandelbares Prinzip zu schwören.
Die Grundaufgabe der Partei in allen Epochen ihres Kampfes bestand darin, die Bedingungen einer realen, wirtschaftlichen, alltäglichen Gleichheit der Menschen, als Glieder eines solidarischen menschlichen Gemeinwesens, zu schaffen. Eben daher und eben dazu mußten die Theoretiker des Proletariats die Metaphysik der Demokratie, die philosophische Verschleierung politischer Mystifikationen entlarven.
Wenn die demokratische Partei, in der Epoche ihres revolutionären Aufstiegs die erdrückende und einschläfernde Lüge des kirchlichen Dogmas enthüllend, den Massen predigte: „Man lullt Euch durch das Versprechen ewiger Seligkeit im Jenseits ein, hier seid Ihr aber rechtlos und durch Ketten der Willkür gefesselt“, – so erklärte die sozialistische Partei einige Jahrzehnte darauf denselben Massen mit nicht geringerer Berechtigung:
„Man schläfert Euch durch den Schein der bürgerlichen Gleichheit und der bürgerlichen Rechte ein, es ist Euch jedoch die Möglichkeit genommen, diese Rechte zu verwirklichen; die bedingte und illusorische juristische Gleichheit ist in eine ideale Kette des Sträflings verwandelt, durch den ein jeder von Euch an den Wagen des Kapitals geschmiedet ist.“
Im Namen ihrer Grundaufgabe mobilisierte die sozialistische Partei die Massen auch auf der Grundlage des Parlamentarismus, aber nirgends und nie verpflichtete sich die Partei als solche, die Massen nicht anders zum Sozialismus zu führen als durch die Pforten der Demokratie. Uns dem Parlamentsregime anpassend, begnügten wir uns in der vorhergehenden Epoche mit der theoretischen Entlarvung der Demokratie, denn wir waren noch zu schwach, um sie praktisch zu überwinden. Aber der Ideenkreis des Sozialismus, der durch alle Abweichungen, Erniedrigungen und sogar Verrätereien zum Vorschein kam, bestimmte folgenden Ausweg: die Demokratie beiseitezuwerfen und sie durch einen Arbeitsmechanismus des Proletariats in dem Moment zu ersetzen, wo das Proletariat sich stark genug zeigen würde, die Ausführung einer derartigen Aufgabe auf sich zu nehmen.
Wir werden hier ein Zeugnis anführen, das kraß genug ist:
„Der Parlamentarismus – schrieb Paul Lafargue im russischen Sammelbuch Sozialdemokrat im Jahre 1888 – ist ein so geartetes Regierungssystem, daß bei dem Volke die Illusion entsteht, als verwalte es selbst das Land, während in Wirklichkeit die tatsächliche Macht sich in den Händen der Bourgeoisie konzentriert, und nicht einmal der gesamten Bourgeoisie, sondern nur einiger Schichten dieser Klasse. In der ersten Zeit ihrer Herrschaft sieht die Bourgeoisie nicht die Notwendigkeit, die Illusion der Selbstverwaltung für das Volk zu schaffen. Daher begannen alle parlamentarischen Länder Europas mit der beschränkten Stimmabgabe; überall gehörte das Recht, der Politik des Landes durch Wahl von Abgeordneten eine Richtung zu geben, anfangs nur den mehr oder weniger großen Eigentümern, und dann erst dehnte es sich allmählich auf die weniger besitzenden Bürger aus, bis es sich in einigen Ländern aus einem Vorrecht zu einem allgemeinen Recht eines jeden verwandelte.“
„Je bedeutender die Menge des gesellschaftlichen Reichtums in der bürgerlichen Gesellschaft, von einer desto geringeren Anzahl yon Personen wird sie angeeignet; dasselbe geschieht auch mit der Macht: je mehr die Zahl der Bürger, die über politische Rechte verfügen, wächst und die Zahl der wählbaren Herrscher sich vergrößert, desto mehr konzentriert sich die wirkliche Macht und wird zum Monopol einer immer kleineren und kleineren Gruppe von Personen.“
Das ist das Sakrament der Mehrheit.
Für den Marxisten Lafargue bleibt der Parlamentarismus so lange, wie die Herrschaft der Bourgeoisie unangetastet bleibt.
„An dem Tage, schreibt Lafargue, wo das Proletariat Europas und Amerikas sich des Staates bemächtigt, wird es die revolutionäre Regierung organisieren und über der Gesellschaft diktatorisch walten müssen, bis die Bourgeoisie als Klasse verschwindet.“
Kautsky kannte seinerseits diese marxistische Einschätzung des Parlamentarismus und wiederholte sie auch gar manches Mal selber, wenn auch nicht mit einer derartigen gallischen Klarheit und Schärfe. Das theoretische Renegatentum Kautskys besteht eben darin, daß er, das Prinzip der Demokratie als absolut und unwandelbar anerkennend, von der materialistischen Dialektik auf das Naturrecht zurückging. Das, was vom Marxismus als Bewegungsmechanismus der Bourgeoisie entlarvt wurde und nur vorübergehend zwecks Vorbereitung der Revolution des Proletariats politisch ausgenutzt werden sollte, ist von Kautsky wieder als höchstes, über den Klassen stehendes Grundgesetz sanktioniert worden, das alle Methoden des proletarischen Kampfes sich untertan machen müsse. Die gegenrevolutionäre Ausartung des Parlamentarismus fand ihren vollendetsten Ausdruck in der Vergötterung der Demokratie durch die Verfallstheoretiker der II. Internationale.
 

Die Konstituierende Versammlung

Allgemein gesprochen, ist die Erlangung der Mehrheit durch die Partei des Proletariats im demokratischen Parlament keine unbedingte Unmöglichkeit. Eine solche Tatsache aber würde, sogar wenn sie sich verwirklichte, nichts prinzipiell neues in die Entwicklung der Ereignisse hineinbringen. Die Zwischenelemente der Intelligenz würden vielleicht unter dem Einflüsse des parlamentarischen Sieges dem neuen Regime gegenüber weniger Widerstand leisten. Der Hauptwiderstand der Bourgeoisie aber würde durch solche Faktoren wie die Stimmung der Armee, den Umfang der Bewaffnung der Arbeiter, die Lage in den Nachbarstaaten bestimmt werden, und der Bürgerkrieg würde sich unter dem Druck dieser realsten Verhältnisse und nicht der schwankenden Arithmetik des Parlamentarismus entwickeln.
Unsere Partei weigerte sich nicht, der Diktatur des Proletariats den Weg durch die Pforte der Demokratie zu öffnen, denn sie war sich der gewissen agitatorisch-politischen Vorzüge eines solchen legalisierten Ueberganges zum neuen Regime klar bewußt. Hieraus folgte unser Versuch, die Konstituierende Versammlung einzuberufen. Dieser Versuch mißlang. Der russische Bauer, der erst von der Revolution zum politischen Leben erweckt worden war, stand von Angesicht zu Angesicht einem halben Dutzend Parteien gegenüber, von denen eine jede es sich gleichsam zum Ziel gesetzt hatte, ihn zu verwirren. Die Konstituierende Versammlung stand der revolutionären Bewegung im Wege und wurde hinweggefegt.
Die Kompromißlermehrheit der Konstituierenden Versammlung stellte nur den politischen Widerschein der geistigen Unreife und der Unentschlossenheit der städtischen und ländlichen Zwischenschichten und der rückständigen Teile des Proletariats dar. Stellt man sich auf den Standpunkt der abstrakten historischen Möglichkeiten, so kann man sagen, daß es weniger schmerzhaft gewesen wäre, wenn die Konstituierende Versammlung nach einer Arbeit von zwei Jahren die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki durch deren Beziehungen zu den Kadetten endgültig diskreditiert und dadurch zum formalen Uebergewicht der Bolschewiki geführt hätte; sie hätte dann den Massen gezeigt, daß es nur zwei Klüfte gibt: das von den Kommunisten geführte revolutionäre Proletariat und die gegenrevolutionäre Demokratie mit den Generalen und Admiralen an der Spitze. Das Wesentliche aber ist, daß das Entwicklungstempo der Beziehungen der Revolution durchaus nicht mit dem Entwicklungsgang der internationalen Beziehungen Schritt hielt. Hätte unsere Partei die ganze Verantwortung der objektiven Pädagogik des „Ganges der Ereignisse“ aufgebürdet, so hätte die Entwicklung der militärischen Ereignisse uns überholen können. Der deutsche Imperialismus hätte von Petersburg Besitz ergreifen können, was zu träumen die Regierung Kerenskis eifrig begann. Der Verlust Petersburgs hätte dann für das Proletariat den Todesstoß bedeutet, denn alle besten Kräfte der Revolution waren dort in der Baltischen Flotte und in der roten Hauptstadt konzentriert.
Unsere Partei darf man folglich nicht dessen anklagen, daß sie der historischen Entwicklung zuwidergehandelt habe, sondern dessen, daß sie einige politische Stufen übersprungen hat. Sie schritt über den Kopf der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre hinweg, um dem deutschen Militarismus die Möglichkeit zu nehmen, über den Kopf des russischen Proletariats hinwegzuschreiten und mit der Entente auf dem Rücken der Revolution Frieden zu schließen, ehe diese ihre Fittiche über die ganze Welt ausgebreitet hatte.
Nach dem Gesagten kann man leicht die Antworten auf jene beiden Fragen finden, die uns Kautsky immer wieder stellt. Erstens, warum wir die Konstituierende Versammlung einberiefen, wenn wir die Diktatur des Proletariats im Auge hatten. Zweitens, warum wir, als die erste Konstituierende Versammlung, die einzuberufen wir für nötig fanden, sich als rückständig und den Interessen der Revolution nicht entsprechend herausstellte, die Einberufung einer neuen Konstituierenden Versammlung ablehnten. Der Hintergedanke Kautskys ist der, daß wir die Demokratie nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern deshalb verworfen haben, weil sie gegen uns gerichtet war. Um diese Verleumdung bei ihren langen Ohren zu fassen, wollen wir die Tatsachen wiederholen.
Die Losung „die ganze Macht den Räten“ war von unserer Partei seit Beginn der Revolution aufgestellt worden, d. h. nicht nur lange vor der Auflösung der Konstituierenden Versammlung, sondern auch lange vor dem Dekret über ihre Einberufung. Wir stellten freilich die Sowjets der zukünftigen Konstituierenden Versammlung nicht gegenüber, deren Einberufung von der Regierung Kerenskis immer wieder aufgeschoben und daher immer problematischer wurde; auf jeden Fall aber betrachteten wir die Konstituierende Versammlung nicht nach dem Vorbild der kleinbürgerlichen Demokraten als den zukünftigen Herrn des russischen Landes, der kommen und alles entscheiden werde. Wir klärten die Massen darüber auf, daß der wirkliche Herr nur die revolutionären Organisationen der werktätigen Massen selbst – die Sowjets – sind und sein können. Wenn wir die Konstituierende Versammlung nicht schon im voraus verwarfen, so geschah das nur deshalb, weil sie nicht der Macht der Räte, sondern der Macht Kerenskis selbst entgegengestellt wurde, der seinerseits nur ein Aushängeschild der Bourgeoisie war. Dabei hatten wir schon im voraus beschlossen, daß, wenn in der Konstituierenden Versammlung die Mehrheit auf unserer Seite sein würde, die Konstituierende Versammlung sich selbst aufzulösen und die Macht den Sowjets zu übergeben habe, wie dies später die Petersburger Stadtverordnetenversammlung getan hat, die auf Grund des demokratischen Wahlrechts gewählt worden war. In meinem Büchlein Die Oktoberrevolution habe ich mich bemüht, die Ursachen aufzudecken, aus welchen die Konstituierende Versammlung ein verspäteter Widerschein einer von der Revolution schon überholten Epoche war. Da wir die Organisation der revolutionären Macht nur in den Räten sahen, da zur Zeit der Einberufung der Konstituierenden Versammlung die Sowjets schon tatsächlich die Macht darstellten, so wurde die Frage für uns unvermeidlich durch die gewaltsame Auflösung der Konstituierenden Versammlung entschieden, die sich selbst zugunsten der Macht der Sowjets nicht aufzulösen wünschte.
Aber warum – fragt Kautsky – beruft Ihr keine neue Konstituierende Versammlung ein?
Darum, weil wir sie nicht für nötig erachten. Konnte die erste Konstituierende Versammlung noch durch eine für die kleinbürgerlichen Elemente überzeugende Sanktion des eben erst errichteten Sowjetregimes vorübergehend eine fortschrittliche Rolle spielen, so bedarf die Macht der Räte jetzt, nach zweijähriger siegreicher Diktatur des Proletariats und nach dem vollständigen Zusammenbruch aller demokratischen Versuche in Sibirien, an den Ufern des Weißen Meeres, in der Ukraine, im Kaukasus, nicht der Weihe durch die Autorität der Konstituierenden Versammlung.
„Haben wir in diesem Falle nicht das Recht zu folgern“, fragt Kautsky in Uebereinstimmung mit Lloyd George, „daß die Sowjetmacht kraft des Willens der Minderheit regiert, wenn sie die Kontrolle ihrer Herrschaft durch die allgemeine Abstimmung vermeidet?“
Wahrlich ein Schlag, der am Ziele vorbeitrifft.
Wenn das parlamentarische Regime sogar in der Epoche der „friedlichen“, normalen Entwicklung ein sehr unzuverlässiges Barometer der Stimmungen im Lande war und in der Epoche des revolutionären Sturmes vollständig die Fähigkeit verloren hat, mit dem Gang des Kampfes und der Entwicklung des politischen Bewußtseins Schritt zu halten, so sucht die Sowjetmacht, die mit der werktätigen Mehrheit des Volkes ungleich näher, organischer, ehrlicher verbunden ist, ihre Bedeutung nicht darin, die Mehrheit statisch widerzuspiegeln, sondern sie dynamisch zu bilden. Dadurch, daß die Arbeiterklasse den Weg der revolutionären Diktatur betreten hat, hat sie deutlich ausgedrückt, daß sie ihre Politik in der Uebergangsperiode nicht auf die illusorische Kunst baut, mit den chamäleonischen Parteien im Einfangen von Bauernstimmen zu wetteifern, sondern auf die tatsächliche Heranziehung der Bauernmassen Hand in Hand mit dem Proletariat zur Verwaltung des Landes im wirklichen Interesse der werktätigen Massen. Diese Demokratie ist etwas tiefer als der Parlamentarismus.
Nimmt Kautsky an, daß gegenwärtig, wo die Hauptaufgabe der Revolution – eine Frage von Sein oder Nichtsein – in der militärischen Abwehr des rasenden Andranges der weißgardistischen Banden liegt, irgend eine parlamentarische „Mehrheit“ fähig sei, eine energischere und selbstaufopferndere, siegreichere Organisation der revolutionären Verteidigung zu sichern? Die Bedingungen des Kampfes in einem revolutionären Lande, das vom schändlichen Ring der Blockade gewürgt wird, sind so deutlich, daß allen Zwischenklassen und Zwischengruppen nur die Wahl zwischen Denikin und der Sowjetmacht bleibt. Was für ein Beweis ist noch nötig, wenn sogar Parteien, die aus Prinzip Zwischenparteien sind, wie die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, sich in derselben Richtung gespalten haben? Wenn Kautsky uns Wahlen in die Konstituierende Versammlung vorschlägt, beabsichtigt er für die Zeit der Wahlen den Bürgerkrieg einzustellen? Kraft wessen Entscheidung? Wenn er dazu die Autorität der II. Internationale in Bewegung zu setzen gedenkt, so beeilen wir uns, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß diese Institution bei Denikin nur sehr wenig mehr Autorität besitzt als bei uns. Soweit der Krieg zwischen der Arbeiter- und Bauernarmee und den imperialistischen Banden aber fortgesetzt und die Wahlen notgedrungen auf das Sowjetterritorium beschränkt werden müssen, will Kautsky verlangen, daß wir den Parteien, die Denikin gegen uns unterstützen, erlauben, offen aufzutreten? Leeres und verachtungswürdiges Geschwätz! Niemals und unter keinen Umständen kann eine Regierung dem gegen sie kämpfenden Gegner erlauben, im Rücken ihrer eigenen Armee feindliche Kräfte zu mobilisieren.
Nicht die letzte Stelle nimmt in dieser Frage die Tatsache ein, daß die Elite der werktätigen Bevölkerung sich gegenwärtig in der aktiven Armee befindet. Die vorgeschrittenen Proletarier und die aufgeklärtesten Bauern, die bei allen Wahlen, sowie bei allen politischen Massenaktionen an erster Stelle stehen und die öffentliche Meinung der Werktätigen leiten, sie alle ringen und sterben gegenwärtig in der Eigenschaft von Befehlshabern, Kommissaren oder einfachen Kämpfern der Roten Armee. Wenn selbst die „demokratischen“ Regierungen der bürgerlichen Staaten, deren Regime sich auf den Parlamentarismus gründet, es nicht für möglich hielten, während des Krieges Wahlen zum Parlament vorzunehmen, um wieviel sinnloser ist es, solche Wahlen während des Krieges von der Sowjetrepublik zu fordern, die in keiner Weise auf dem Parlamentarismus basiert. Es genügt durchaus, daß die revolutionäre Macht Rußlands ihren Wahlinstitutionen – den örtlichen Sowjets – in den schwersten Monaten und Tagen mit allen Mitteln die Möglichkeit gegeben hat, sich durch periodische Wahlen zu erneuern.
Endlich, als letzter Beweis – last but not least – muß Kautsky gesagt werden, daß sogar die russischen Kautskyaner, Menschewisten wie Martow und Dan, es nicht für möglich halten, gegenwärtig die Forderung der Konstituierenden Versammlung aufzustellen, und sie für eine bessere Zukunft aufsparen. Wird sie dann nötig sein? Wir erlauben uns, daran zu zweifeln. Wenn der Bürgerkrieg beendet sein wird, dann wird die Diktatur der Arbeiterklasse ihre ganze schöpferische Kraft entfalten und den rückständigen Massen durch die Tat zeigen, was sie ihnen geben kann. Durch die planmäßig durchgeführte Arbeitspflicht und durch die zentralisierte Organisation der Verteilung wird die ganze Bevölkerung des Landes in das allgemeine Wirtschaftssystem der Sowjets und der Selbstverwaltung hineingezogen werden. Die Sowjets selbst, gegenwärtig Machtorgane, werden sich in rein wirtschaftliche Organisationen verwandeln. Unter diesen Verhältnissen wird es wohl kaum jemandem in den Sinn kommen, dem realen Bau der sozialistischen Gesellschaft die altertümliche Krone der „Konstituierenden“ Versammlung aufzusetzen, die nur festzustellen hätte, daß alles Nötige schon vor ihr und ohne sie konstituiert worden ist. [1]
In diesem Geschreibsel sind einige Körnchen Wahrheit enthalten. Die Börse hat in der Tat die Regierung Koltschaks unterstützt, als dieser sich auf die Konstituierende Versammlung stützte. Sie hat Koltschak aber noch energischer unterstützt, nachdem er die Konstituierende Versammlung auseinandergejagt hatte. An der Erfahrung mit Koltschak festigte sich die Ueberzeugung der Börse, daß die Mechanik der bürgerlichen Demokratie zu kapitalistischen Zwecken ausgenutzt und darauf beiseitegeworfen werden könne, wie ein abgetragener Fußlappen. Es ist durchaus möglich, daß die Börse von neuem einigen Vorschuß auf die Konstituierende Versammlung geben wird, in der festen, durch die Erfahrung durchaus begründeten Ueberzeugung, daß die Konstituierende Versammlung nur eine Uebergangsstufe zur kapitalistischen Diktatur ist. Wir beabsichtigten nicht, das „Geschäftsvertrauen“ der Börse um einen solchen Preis zu erkaufen und ziehen entschieden das „Vertrauen“ vor, das die Waffe unserer Roten Armee der realistischen Börse einflößt.

* * *

Anmerkung

1. Um uns für die Konstituierende Versammlung einzunehmen, fügt Kautsky den Beweisgründen des kategorischen Imperativs das Argument der Valuta hinzu.
„Rußland bedarf dringend – schreibt er – der Hilfe des ausländischen Kapitals. Aber sie wird der Sowjetrepublik nicht zuteil werden ... Nicht etwa, daß die Kapitalisten demokratische Idealisten wären. Sie haben dem Zarismus bedenkenlos viele Milliarden geborgt. Aber sie bringen einer revolutionären Regierung kein geschäftliches Vertrauen entgegen.“ (S. 144)

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Anmerkung

1. Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte (!) der Revolution von Karl Kautsky, Berlin 1919.




Leo Trotzki

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Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki (um 1929)
Leo Trotzki (russisch Лев Троцкий Lew Trozki, wiss. Transliteration Lev Trockij; * 26. Oktoberjul.7. November 1879greg. als Lew Dawidowitsch Bronstein, russisch Лев Давидович Бронштейн, Transliteration Lev Davidovič Bronštejn in JanowkaGouvernement ChersonRussisches Kaiserreich; † 21. August 1940 in CoyoacánMexiko) war ein russischer Revolutionär, kommunistischer Politiker und marxistischer Theoretiker.
Leo Trotzki war Mitglied des Zentralkomitees der Russischen Revolution, nach dem Sturz der bürgerlichen Regierung Kerenski Volkskommissar des Äußeren (Außenminister) und Kriegskommissar (Kriegsminister) im Bürgerkrieg auf der Seite der Bolschewiki.
Trotzki, wie er sich ab 1902 nannte, war der maßgebliche Organisator der Revolution vom 25. Oktoberjul.7. November 1917greg., der die Bolschewiki unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin an die Macht brachte. In der anschließend gebildeten Regierung war er Volkskommissar des Auswärtigen, für Kriegswesen, Ernährung, Transport und Verlagswesen. Als Kriegskommissar gründete er die Rote Armee, an deren Organisation und an deren Sieg im Russischen Bürgerkrieg er wesentlichen Anteil hatte. Nach Lenins Tod 1924 wurde Trotzki von Josef Stalin zunehmend entmachtet, 1929 ins Exil gezwungen und 1940 von einem sowjetischen Agenten in Mexiko ermordet.
Nach ihm wurde die von der sowjetischen Parteilinie des Marxismus-Leninismus abweichende Richtung des Trotzkismus benannt.

Kindheit und Jugend


Lew Bronstein als 9-Jähriger, 1888
Lew Bronstein wurde als fünftes Kind jüdischer Kolonisten im damals zum russischen Staatsgebiet gehörenden Janowka im Kreis Jelisawetgrad, dem heutigen Bereslawka in der ukrainischen Oblast Kirowohrad geboren und besuchte die Realschule der Stadt Nikolajew (heutige ukrainische Namensform Mykolajiw). Sein Vater Dawid Leontjewitsch Bronstein war Landwirt, der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Der Religion gleichgültig gegenüberstehend, bewirtschaftete er mit Hilfe von Lohnarbeitern den größeren Hof namens Janowka in der Nähe der Kleinstadt Bobrynez.
Seine Mutter Anna kam aus einer kleinbürgerlichen Familie und war eine gebildete, in der Stadt aufgewachsene Frau, die der jüdisch-orthodoxen Religion anhing.
Seine Schwester Olga schloss sich später auch den Revolutionären an. Sie heiratete Lew Kamenew, einen einflussreichen Parteitheoretiker der Bolschewiki und eine der Hauptfiguren des thermidorianischen Triumvirates gegen die erste so genannte Linke Opposition der Zwanziger Jahre, schloss sich aber wenig später doch mit Sinowjew der Vereinigten Opposition gegen Stalin an und wurde später hingerichtet.
Die Jahre im provinziellen Janowka erlebte der spätere Volkskommissar weder als unbeschwert noch als bedrückend. Er berichtete in seiner Autobiografie Mein Leben später von einer „biederen Kleinbürgerkindheit, farblos in der Schattierung, beschränkt in der Moral, nicht von Kälte und Not, aber auch nicht von Liebe, Überfluss und Freiheit geprägt“.
1886 besuchte Bronstein den Cheder, eine religiös geprägte Grundschule, in der benachbarten Kolonie Gromokley, wo er Russisch, Arithmetik und Bibel-Hebräisch erlernte. Ab 1888 absolvierte Bronstein die deutsch-lutherische Realschule zum Heiligen Paulus in der Hafenstadt Odessa. Dort lernte er das ländliche, orthodoxe Judentum, wie es seine Familie praktizierte, aus der aufgeklärten Sicht des Bürgertums zu sehen und begann, sich für ein weltoffenes, assimiliertes Judentum einzusetzen. Neun Jahre später bestand er das Abitur in Nikolajew als Bester seines Jahrgangs.

Lew Bronstein, 1897
Schon ein Jahr zuvor hatte der 17-Jährige begonnen, sich politisch von einem radikaldemokratischen Oppositionellen zum Volkstümler zu entwickeln. Das Volkstümlertum gehörte mit dem Marxismus zu den beiden populärsten oppositionellen Richtungen jener Tage. Er trat einem Diskussionszirkel junger Oppositioneller bei, in dem er die Positionen der Volkstümler vertrat. Seine Kontrahentin und spätere erste Frau war die sieben Jahre ältere Alexandra Lwowna Sokolowskaja, die sich als Marxistin verstand und ihn letztlich von der marxistischen Theorie überzeugte. Als Bronstein sich politisch betätigte, stellten seine Eltern ihre Unterhaltszahlungen ein.
Im Jahre 1897 war Bronstein nunmehr als Sozialist maßgeblich an der Gründung des sozialdemokratischen Südrussischen Arbeiterbundes beteiligt. Er fungierte in dieser Organisation als Propagandist und Verbindungsmann zwischen den Gruppen in Nikolajew und Odessa.

Erste Haft und Flucht


Polizeifoto von Bronstein nach seiner Festnahme 1898
Anfang 1898 nahm die zaristische Polizei Bronstein im Rahmen von Massenverhaftungen, deren Anlass der Verrat des Tischlers Nesterenko war, fest und ließ ihn in den Gefängnissen von Nikolajew, Cherson und Odessa einsitzen. 1899 wurde er zur Verbannung nach Sibirien verurteilt, wo er seiner Fundamentalkritik am Sankt Petersburger Regime mit intensiven Studien des dialektischen und historischen Materialismus sowie der marxistischen Weltanschauung ein theoretisches Fundament gab.
Im Moskauer Überführungsgefängnis Butyrka heiratete der Revolutionär 1900 Alexandra Sokolowskaja, die ihn wenig später in die Verbannung nach Irkutsk begleitete. Im folgenden Jahr wurde ihre erste Tochter, Sinaida, geboren und 1902 die zweite Tochter Nina (gest. 1928).[1]
Im Jahre 1902 verließ er wegen seiner revolutionären Arbeit seine Frau und die beiden kleinen Töchter und floh aus der Verbannung. Um die Flucht zu bewerkstelligen, legte er sich einen gefälschten Pass auf den Namen Trotzki zu, womit er sich, seinem Hang zur Ironie folgend, nach dem Oberaufseher des Gefängnisses in Odessa benannte. Diesen Namen verwendete er danach bis zum Ende seines Lebens.

Vor dem Umsturz

Wenig später, im Herbst 1902, kam Leo Trotzki, der Einladung von Wladimir Iljitsch Lenin folgend, nach London und wohnte mit ihm zusammen.
In der Emigration übernahm er die Rolle des leitenden Redakteurs der sozialdemokratischen Zeitung Iskra (Der Funke), eine Tätigkeit, die ihm den Spitznamen „Leninscher Knüppel“ einbrachte; nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie führte er diese Arbeit jedoch nicht mehr fort. Bald schon trat er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) Georgi Walentinowitsch Plechanows bei und vertrat auf dem II. Parteitag der SDAPR in der britischen Hauptstadt den sogenannten Sibirischen Bund.
In dieser Zeit lernte Trotzki auch Alexander Parvus, eigentlich Israil Lasarewitsch Helphand, kennen, der ebenfalls aus einem jüdischen Stetl in der Nähe von Odessa stammte und der in der deutschen SPD sein politisches Betätigungsfeld gefunden hatte. Der ältere Parvus prägte den jungen Trotzki sehr stark. Dessen „Theorie der permanenten Revolution“ basiert zum Teil auf einer ähnlichen Konzeption von Parvus.
Auf dem zweiten Parteitag der SDAPR (1903) kam es zur Spaltung der Partei über die Frage, wer als Parteimitglied betrachtet werden könne. Opponenten bei dieser Auseinandersetzung waren einerseits Lenin, nach dessen Meinung nur Personen Parteimitglied sein konnten, die sich persönlich engagierten, und andererseits Martow, der lediglich die Unterstützung der Partei als Grundlage einer Parteimitgliedschaft ansah. Bei der folgenden Abstimmung siegten die Anhänger Lenins, die in der Folge Bolschewiki (deutsch: Mehrheitler) genannt wurden; ihnen standen die Menschewiki (deutsch: Minderheitler) entgegen. Trotzki versuchte einerseits, zwischen den Parteifraktionen zu vermitteln, andererseits schwenkte er stark in die Nähe der Menschewiki ein. Er verfasste Schriften, in denen er Lenin Machtgier als Grundlage seiner Politik unterstellte und ihn einen „Diktatorenkandidaten“ oder auch „Maximilien de Lénine“ nannte (als kritische Anspielung auf den französischen Revolutionär Maximilien de Robespierre). Das Verhältnis der beiden künftigen Revolutionsführer war durch diese Polemiken lange Zeit belastet. In späteren Schriften nahm Trotzki seine menschewistischen Positionen zurück.
1902 hielt sich Trotzki zeitweise in Paris auf, wo er die Kunstgeschichtsstudentin Natalja Sedowa kennenlernte. Sie blieb bis zu seinem Lebensende an seiner Seite.
Von August 1904 an wohnte Trotzki ein halbes Jahr lang in München.
Im selben Jahr brach er mit den Menschewiki und postulierte in der „Theorie der permanenten Revolution“, dass das seiner Ansicht nach gänzlich zaristisch diskreditierte russische Bürgertum einen Umsturz nach dem Muster der Französischen Revolution nicht wagen werde. Vielmehr werde die Arbeiterklasse, die allerdings noch sehr klein sei, eine bedeutende Rolle im Bündnis mit den ärmsten Schichten der Bauernschaft und den Landproletariern bei der Errichtung der „Diktatur des Proletariats, gestützt auf den Bauernkrieg“ spielen. Dies stellt eine entscheidende Weiterentwicklung des Marxismus dar, da sich Marx in einem industriell rückständigen Land (90 % der Bevölkerung waren Bauern) keine proletarische Revolution vorstellte. Er war der Ansicht, dass erst nach einem weiteren Fortschreiten des Kapitalismus die Gesellschaft für einen kommunistischen Umsturz bereit wäre.
Während der Revolution von 1905 kehrte er nach dem St. Petersburger Aufstand im Oktober 1905 nach Russland zurück, wo er zusammen mit Parvus Mitglied des St. Petersburger „Sowjets (Rat) der Arbeiterdeputierten“ wurde. Trotzki übernahm den Vorsitz des Rates. Nach seiner Verhaftung wurde Parvus sein Nachfolger. In der Verbannung verfasste Trotzki die Schrift Bilanz und Ausblick – Russland in der Revolution. 1906 wurde sein drittes Kind geboren, der Sohn Lew. Zwei Jahre später folgte der Sohn Sergej. Die Mutter beider Kinder war Natalja Iwanowna Sedowa.
Die von Trotzki beeinflusste Massenbewegung wurde zerschlagen. Trotzki, der inzwischen zum Vorsitzenden des Sowjets aufgestiegen war und sich in den Dezemberaufständen engagiert hatte, wurde nach einem Schauprozess ein zweites Mal zu lebenslanger Verbannung verurteilt. Seine Strafe sollte er im Gouvernement Tobolsk antreten. Er floh bereits beim Transport und entkam, ebenso wie Parvus, in das habsburgische Wien.
Auf dem Parteitag von 1907, abermals in London, schloss sich Trotzki weder den Bolschewiki noch den Menschewiki an, sondern stand einer von den Bolschewiki so genannten zentristischen Fraktion vor. Ab 1908 gab er zusammen mit Adolf Joffe eine Zeitung mit Namen Prawda (deutsch: „Wahrheit“ oder „Gerechtigkeit“) heraus, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen von Lenin herausgegebenen Zeitung, die ab 1912 erschien. In jener Zeit versuchte vor allem Kamenew, Trotzki von der bolschewistischen Fraktion und den Positionen Lenins zu überzeugen; Trotzki blieb allerdings Kritiker Lenins, ebenso wie Lenin die Positionen Trotzkis verurteilte.
Trotzki führte nun das Leben eines rastlosen Emigranten; sammelte erste militärische Erfahrungen auf dem Balkan und lieferte zeitweise als Kriegsberichterstatter Beiträge für die Zeitung Kijewskaja mysl unter dem Titel Die Balkankriege.
Es kam zum Bruch zwischen Trotzki und Parvus. Letzterer vertrat ein anderes Konzept der „Theorie der permanenten Revolution“. Von 1910 bis 1914 schloss sich Parvus den Jungtürken an und beteiligte sich an der Revolution gegen das Osmanische Reich in Konstantinopel. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er mit amtlichen deutschen Stellen zusammen.

Leo Trotzki mit seiner Tochter Nina (1915)
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges floh Trotzki vor der in Österreich drohenden Verhaftung in die neutrale Schweiz und zog im November 1914 nach Paris, um für Kijewskaja mysl über den Krieg zu berichten. Ab Januar 1915 gab er dort die Zeitung Nasche Slowo heraus, die als Organ der internationalistischen Menschewiki fungierte. Auf der Zimmerwalder Konferenz 1915 gehörte er mit Lenin, dem er sich stetig annäherte, zu den Unterzeichnern des von ihm verfassten Internationalen Sozialistischen Antikriegsmanifestes. Wegen seiner gegen den Krieg gerichteten Agitation wurde er, nachdem es unter russischen Truppen in Frankreich zu einer Meuterei gekommen war, im September 1916 von den französischen Behörden nach Spanien abgeschoben. Dort wurde er verhaftet und im Dezember 1916 in die Vereinigten Staaten deportiert.

Oktoberrevolution

In New York, wo er mit seiner zweiten Ehefrau Natalja Sedowa ein Apartment bewohnte, arbeitete Trotzki für die russisch- bzw. jiddischsprachigen Zeitungen Novy Mir und Der Forwerts. Im März 1917 erhielt er die Nachricht von der russischen Februarrevolution, durch welche die bürgerliche Provisorische Regierung unter dem Fürsten Lwow und seinem sozialdemokratischen Kriegsminister Kerenski an die Macht kam.
Auf dem Weg nach Russland wurde Trotzki am 3. April 1917 in HalifaxNova ScotiaKanada, festgenommen und in ein Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene gebracht. Allerdings setzte der Petrograder Sowjet – 1914 war St. Petersburg in Petrograd umbenannt worden – die Provisorische Regierung unter Druck, sich für Trotzki einzusetzen. Nach seiner Freilassung kam er im Mai 1917 in Petrograd an. Dort schloss er sich erneut einer sogenannten zentristischen Arbeiterpartei an, diesmal der Überregionalen Organisation vereinigter Sozialdemokraten (Meschrajonzy), die das Ziel hatte, die Bolschewiki und Menschewiki auszusöhnen. Nach einigen Auseinandersetzungen schloss sich die Überregionale Organisation unter der Führung Trotzkis, den in der theoretischen Auseinandersetzung allein noch die Frage einer sozialdemokratischen Massenpartei von Lenin trennte, den Bolschewiki an. Trotzki selbst wurde auf dem VI. Parteitag der Bolschewiki in absentia (er war nach dem Juliaufstand verhaftet worden) in die Partei aufgenommen und erhielt einen Platz im Zentralkomitee.
Nachdem die Bolschewiki eine Mehrheit im Petrograder Sowjet erreicht hatten, wurde Trotzki im September 1917 zu dessen Vorsitzenden gewählt und organisierte in dieser Funktion die „Kampfverbände der Roten Garde“. Damit wurde er rasch zu einem der wichtigsten Männer in der Partei. Als am 10. Oktober 1917 das Zentralkomitee der Partei den Entschluss zu einem bewaffneten Aufstand gegen die schwache Regierung von Alexander Kerenski fasste, stimmte Trotzki mit der Mehrheit seiner Genossen dafür. Die später von der stalinistischen Propaganda verbreitete Behauptung, Trotzki habe sich gegen die Revolution ausgesprochen, ist nachweislich unwahr.
Unter seiner Federführung wurde am 16. Oktober 1917 das Militärrevolutionäre Komitee des Petrograder Sowjets gegründet. Dieses Komitee setzte den Befehl der Provisorischen Regierung, zwei Drittel der Petrograder Stadtgarnison an die Front des Ersten Weltkriegs zu beordern, außer Kraft. Dies war der Beginn der Revolte des Militärrevolutionären Komitees im Smolny-Institut, wo Boten mit Nachrichten aus den verschiedenen Teilen der Stadt eintrafen, um über die Ereignisse und Erfolge der Aufständischen zu informieren. Nach der Übernahme von Bahnhöfen, Postämtern, Telegrafenamt, Ministerien und der Staatsbank sowie dem Sturm auf den Winterpalast etablierte am 26. Oktober um 5 Uhr morgens der am Vortag einberufene II. Gesamtrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten eine Koalitionsregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären unter dem Namen Sowjet der Volkskommissare. Gleich danach wurden die Dekrete Über den Frieden und Über den Grund und Boden verabschiedet. Die Parteien der relativ einflusslosen Duma verweigerten, mit Ausnahme der bolschewistischen Fraktion, sowohl den Entscheidungen des Kongresses als auch der Regierung die Anerkennung.

Leo Trotzki 1918
Nachdem die Bolschewiki die Macht erlangt hatten, wurde Trotzki zum Volkskommissar (russisch: народный комиссар Narodnyj Kommissar, kurz Narkom) für äußere Angelegenheiten ernannt. Seine Hauptaufgabe sah er darin, Frieden mit dem Deutschen Reich und dessen Verbündeten (wie Österreich-Ungarn) zu schließen. Er sorgte für die Ausrufung eines Waffenstillstands zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten und leitete die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Er versuchte aufgrund der schwachen Position des revolutionären Russlands und der offen imperialistischen Position der (deutschen) Obersten Heeresleitung in der Frage der Gebietszugehörigkeit der Ukraine solange wie möglich eine Übereinkunft hinauszuzögern. Trotzkis Verhandlungspartner auf deutscher Seite war General Ludendorff, der dessen Hinhaltungstaktik durchschaute. Am 18. Februar 1918 überschritten deutsche Truppen die russisch-deutsche Frontlinie, die seit dem Waffenstillstand vom 15. Dezember 1917 Bestand hatte, und besetzten die Ukraine, die sich bereits im Januar 1918 für unabhängig erklärt hatte und die den unter Nahrungsmittelknappheit leidenden Mittelmächten als „Kornkammer“ dienen sollte (→ Ukrajinska Narodna Respublika). Aufgrund der militärischen Überlegenheit der Mittelmächte musste Sowjetrussland am 3. März 1918 den sehr nachteiligen Friedensvertrag von Brest-Litowsk schließen, der den Verlust der Ukraine und weiterer Gebiete für Sowjetrussland zur Folge hatte.
Das Verhalten Trotzkis während der Verhandlungen war innerhalb der Regierung und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei stark umstritten. Während es auf der einen Seite eine Gruppierung um Karl Radek und Nikolai Bucharin gab, die die unbedingte Fortführung des „revolutionären Krieges“ und die Expansion des Sowjetgebietes forderte, ohne die verzweifelte Lage der eigenen Truppen zu berücksichtigen, wurde von einer Minderheit um Lenin eine riskante Verschleppungstaktik in der Hoffnung auf eine baldige proletarische Revolution in Deutschland und Österreich-Ungarn favorisiert. Trotzki selbst wollte laut seiner Autobiografie eine Kapitulation erst auf eine erneute Offensive von Seiten der deutschen Truppen hin unterzeichnen, enthielt sich aber auf der entscheidenden Abstimmung im ZK, um Lenin die Mehrheit zu sichern, und trat freiwillig aus diplomatisch-taktischen Gründen vom Amt des Volkskommissars für äußere Angelegenheiten zurück.

Gründung der Roten Armee und Bürgerkrieg

Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk, den Trotzki als persönliche Niederlage betrachtete, setzte er sich für den Sieg der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg ein, bei dem sich die sowjetischen „Roten“ und die zaristisch-bürgerlichen „Weißen“ gegenüberstanden. Trotzki wurde am 14. März 1918 zum Volkskommissar für das Kriegswesen ernannt und begann mit dem Aufbau der Roten Arbeiter- und Bauernarmee, kurz Roten Armee.[2]
Trotzki trug mit seinem energischen und gnadenlosen Vorgehen entscheidend zum militärischen Sieg der Bolschewiki bei. Er organisierte die Umwandlung der bisher zerstreuten, desorganisierten Roten Garden in ein straff geführtes Territorialheer; unter anderem ließ er wieder militärische Ränge, Abzeichen und die Todesstrafe in der Armee einführen. Vom August 1918 bis ins Jahr 1920 mischte sich Trotzki an Bord seines Panzerzuges direkt in die Geschicke der Roten Armee ein. Im August 1918 befahl er darüber hinaus, dass bei einem aus Sicht des Oberkommandos unnötigen Rückzug einer Einheit zuerst der Kommissar und dann der militärische Befehlshaber sofort hinzurichten seien. Das Kommandopersonal wurde bis dahin von den Soldaten gewählt. Dieser demokratische Ansatz behinderte aber die Umwandlung in eine neue zentral geführte Armee. Trotzki schaffte die demokratischen Strukturen daher großteils ab, entließ die konservativen Kosaken aus der Kavallerie und verband die Verteidigung der neuen Regierung mit dem Freiheitskampf verschiedener unterdrückter Nationalitäten des ehemaligen Zarenreiches.
Unter Exilrussen hieß es dazu, die Bolschewiki kämpften „mit lettischen Stiefeln und chinesischem Opium“, denn aus Mangel an erfahrenen Offizieren förderte Trotzki den Eintritt von Offizieren der alten zaristischen Armee in die Rote Armee. Bis Kriegsende dienten rund 75.000 im roten Offizierskorps. Manche meldeten sich freiwillig, andere wurden eingezogen. Trotzki befahl, zu ihrer Kontrolle ihre Familien in Sippenhaft zu nehmen, sofern die Offiziere zu den Weißen überlaufen sollten.[3] Die offiziell als „Militärspezialisten“ bezeichneten Offiziere wurden zusätzlich der Kontrolle durch loyale Aufsichtspersonen, so genannte Politkommissare, unterworfen. Gerade dieser Aspekt führte zu harscher Kritik innerhalb der Partei; besonders Josef Stalin, der in Zarízyn, dem späteren Stalin- und heutigen Wolgograd, Kommissar der Roten Armee war, beklagte sich über die Einsetzung des Generals Sytin bei der Verteidigung der Stadt. Er und die übrigen Opponenten der neuen Militärorganisation fanden aber aufgrund der militärischen Erfolge Trotzkis kein Gehör bei Lenin.
Am 6. April übernahm Trotzki noch zusätzlich das Ressort für Marineangelegenheiten. Die Regierung war von Petrograd nach Moskau umgezogen. 1919 benannten sich die Bolschewiken in Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) (KPR (B)) um, die ab 1925 Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) (KPdSU (B)) hieß. Unangefochtener Führer war Wladimir Iljitsch Lenin, der sich mit Trotzki inzwischen ausgesöhnt hatte.
Zunächst standen die Bolschewiki unter großem Druck. Das Territorium der Sowjets wurde 1918 zeitweise durch die sogenannten Weißen Armeen fast auf das Gebiet der alten Moskauer Fürstentümer reduziert. Die Versorgungslage der Städte war schlecht. Zusätzlich griffen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs durch die Entsendung eigener Truppenkontingente in die Kämpfe zugunsten der oppositionellen Weißen Armeen ein. So befanden sich zwischen 1918 und 1922 japanische, US-amerikanische, britische, italienische und französische Truppenkontingente auf russischem Gebiet. Der Roten Armee, die aus den Roten Garden hervorgegangen war, stand jedoch ein Gegner gegenüber, der über keine einheitliche Führung verfügte und widersprüchliche Zielsetzungen verfolgte.
1919 führte Trotzki den Kampf gegen den Anarchisten Nestor Machno und dessen Bewegung, die Machnowschtschina, an.[4]
Bis 1920 gelang es der Roten Armee in einem sehr verlustreichen Kampf, die Weißen Truppen bis in den Osten des russischen Reiches zurückzudrängen. Im Februar desselben Jahres erlitt die Weiße Armee eine schwere Niederlage in Sibirien. Trotzki proklamierte nun den Krieg gegen Polen und dessen ukrainische Verbündeten und machte ihn zur Chefsache im Kriegskommissariat. Durch das sogenannte „Wunder an der Weichsel“ Mitte August wurde die Rote Armee allerdings empfindlich getroffen und vernichtend geschlagen. Die Offensive gegen Polen musste abgebrochen werden. Im Vertrag von Riga erwarben die Sowjets aber Weißrussland und die Ukraine.
Im Mai 1921 fiel die Krim, die letzte Festung der Weißen Armee. Bis zum Ende des Russischen Bürgerkriegs 1922 eroberten die Roten Truppen unter Trotzkis Führung AserbaidschanArmenien und Georgien, deren Regierungen, teils menschewistisch, teils nationalistisch geprägt, die staatliche Unabhängigkeit angestrebt hatten. In Georgien fand im August ein vergeblicher Aufstand gegen die Rote Armee statt, die in den neu eroberten Ländern zum Teil als Befreier, zum Teil aber als Besatzungsmacht wahrgenommen wurde.
Der Aufstand der Kronstädter Matrosen 1921 – sie forderten sofortige gleiche und geheime Neuwahlen der Sowjets, Rede- und Pressefreiheit für alle anarchistischen und linkssozialistischen Parteien, Versammlungsfreiheit, freie Gewerkschaften und eine gerechtere Verteilung von Brot[5] – wurde von der Roten Armee unter Trotzkis Führung „mit erbarmungsloser Härte und Massenerschießungen“ unterdrückt.[6] Trotzki verteidigte auch energisch die Pressezensur.[7] Auch für die blutige Niederschlagung von Bauernaufständen mit Tausenden Toten, z. B. im Gebiet der heutigen Ukraine, die sich vor allem gegen die Kornkonfiskationen richteten, wurde Trotzki als oberster Heeresführer verantwortlich gemacht. In den 1930er Jahren kritisierten die Kommunisten Max EastmanBoris SouvarineAnte Ciliga und Victor Serge Trotzkis Rolle bei der brutalen Niederschlagung, die sie als Beginn des Stalinismus und als Vorläufer des Großen Terrors ihrer Gegenwart ansahen.[8] Trotzki rechtfertigte sein Vorgehen:
„Ich weiß nicht […], ob es unschuldige Opfer (in Kronstadt) gab […]. Ich bin bereit, zuzugeben, dass ein Bürgerkrieg keine Schule für menschliches Verhalten ist. Idealisten und Pazifisten haben der Revolution immer Exzesse vorgeworfen. Die Schwierigkeit der Sache liegt darin, dass die Ausschreitungen der eigentlichen Natur der Revolution entspringen, die selbst ein Exzess der Geschichte ist. Mögen jene, die dazu Lust haben (in ihren armseligen journalistischen Artikeln), die Revolution aus diesem Grund verwerfen. Ich verwerfe sie nicht.“[9]
Nach 1921 wurde der Kriegskommunismus allerdings von der Neuen Ökonomischen Politik abgelöst.

Machtkampf mit Stalin


Trotzki (rechts) mit seinem innerparteilichen Unterstützer Christian Rakowski, ca. 1924

Trotzki (4. v. l.) zusammen mit Stalin (3. v. r.) als einer der Sargträger bei der Beerdigung von Felix Dserschinski
Nach der Gründung der Sowjetunion Ende Dezember 1922 begann Trotzki, die entstehende Bürokratie, den Totalitarismus der Bolschewiki und den aufkommenden russischen Nationalismus zu kritisieren. Damit stieß er sowohl auf Zustimmung als auch auf Ablehnung innerhalb der Partei. Ab 1924 richtete er seine Kritik hauptsächlich gegen Josef Stalin.
Lenin äußerte Vorbehalte wegen Trotzkis „übermäßigen Selbstvertrauens“ und seiner „übermäßigen Leidenschaft für rein administrative Maßnahmen“, sagte aber auch, dass Trotzki sich „durch hervorragende Fähigkeiten“ auszeichne und „persönlich wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK“ sei.[10] Nach dem Verlesen des politischen Testaments, in dem Lenin Stalin als zu „grob“ bezeichnete, bot Stalin seinen Rücktritt an, doch der Rücktritt wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. In der Folge begann Stalin gemeinsam mit Sinowjew und Kamenew, Trotzki endgültig von der Macht zu verdrängen. Dazu gehörte, dass Lenins Testament und die Briefe in der Parteipresse und später in den Werkausgaben nicht gedruckt wurden. Lediglich Trotzki und diejenigen, die besser beurteilt worden waren als Stalin, zitierten Lenins letzten Willen in ihren Schriften. Erst ab 1956, dem Beginn der Entstalinisierung, waren diese Schriftstücke parteiintern und öffentlich zugänglich.
Im Oktober 1923 griff Trotzki das bereits von Stalin dominierte Zentralkomitee an, worauf eine heftige Gegenreaktion erfolgte. Von diesem Zeitpunkt an verlor er auf Betreiben Stalins immer mehr an Einfluss innerhalb der Partei. In dieser Zeit arbeitete Trotzki auch wieder theoretisch und veröffentlichte 1923 sein Werk Literatur und Revolution. Darin prophezeite er, dass der gesellschaftliche Aufbau der Sowjetunion die physisch-psychische Selbsterziehung des Einzelnen und vor allem die Künste einen „neuen Menschen“ schaffen würden:
„Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. […] Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau von AristotelesGoethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“[11]
Nach dem Tode Lenins 1924 brach schließlich ein offener Machtkampf zwischen Trotzki und Stalin über die Zukunft der Sowjetunion und die theoretischen Grundlagen für den angestrebten Kommunismus aus. Stalin begann, den sogenannten „Sozialismus in einem Land“ mit Gewalt durchzusetzen, während Trotzki weder den Apparat der Partei noch die Bevölkerung mehrheitlich an sich binden konnte. Stalin festigte mit seinen von Amts wegen gegebenen Möglichkeiten bürokratischer und militärischer Art die Diktatur in der Sowjetunion. Trotzki vertrat das Erbe des Marxismus in anderer Interpretation und berief sich auf den Imperativ der „Weltrevolution“ und die „Arbeiterdemokratie“, gemäß der Parole aus dem Kommunistischen Manifest „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Er versuchte, sich gegen alle von ihm so genannten „reaktionären Angriffe“ durch Stalin zu verteidigen. Sein Ziel war es, der internationalen Arbeiterschaft zum Sieg zu verhelfen. Er ging wie Lenin davon aus, dass nur eine weltweite Revolution den Sieg des Sozialismus ermöglichen könne.
Dies entsprach nicht allein der bisherigen marxistischen Tradition, sondern auch der eigenen Theorie der permanenten Revolution, die er nach der Revolution von 1905 in der Schrift Ergebnisse und Perspektiven formuliert hatte und 1929 noch einmal in polemischer Form darstellte, da ihm die Stalinisten zunehmend fremde Ansichten unter diesem Namen unterschoben und versuchten, diese Theorie als „menschewistische Abweichung“ zu brandmarken. Sie besagte im Wesentlichen, dass die Revolution in rückständigen Ländern eine bürgerlich-demokratische und eine proletarische Phase ohne Unterbrechung durchlaufen müsse, zum erfolgreichen sozialistischen Aufbau der Sieg der Revolution wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern notwendig wäre und sich schließlich auch in Arbeiterstaaten politische, kulturelle und wirtschaftliche Revolutionen vollziehen könnten und müssten, um zum Sozialismus überzugehen.
Nachdem Stalin immer mächtiger geworden war, verlor Trotzki 1925 sein Amt als Kriegskommissar und musste in den nächsten Jahren verschiedene untergeordnete Tätigkeiten im Staatsdienst ausüben. Es folgte die Kennzeichnung von „Trotzkismus“ als „Abweichlertum“ und „Verrat“. Alle Schriften und Werke des „jüdischen Verschwörers“ und „Lakaien des Faschismus“ galten als Ketzerei. Stalin ließ Trotzkis Namen und Fotos aus allen offiziellen Dokumenten und Texten tilgen. Außerdem leugnete er dessen Rolle beim Oktoberaufstand und im Bürgerkrieg.
1926 wurde Trotzki aus dem Politbüro und im November 1927 auch aus der KPdSU ausgeschlossen. Auf dem XV. Parteitag der KPdSU (B) im Dezember 1927 hatte die Opposition keinen stimmberechtigten Delegierten mehr. Trotzki wurde mit anderen Oppositionellen am 17. Januar 1928 nach Alma-Ata (im heutigen Kasachstanverbannt. Von dort wurde er in die Türkei ausgewiesen.

Exil


Das Haus auf der Insel Büyükada bei Istanbul, in dem Trotzki wohnte
Der türkische Staat unter Atatürk gewährte Trotzki 1929 politisches Asyl. Er verbrachte die Jahre zwischen 1929 und 1933 auf der Insel Büyükada in der Türkei.[12] Trotzki war gezwungen zu schreiben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Ausgaben dafür waren hoch, weil er immer Leibwächter zu seinem Schutz brauchte und weil seine weitere politische Arbeit finanziert werden sollte. Daher war ihm ein Angebot des New Yorker Verlages „Charles Scribner’s Sons“ recht, das Schreiben von Trotzkis Autobiographie zu finanzieren und sie zu veröffentlichen. Sie erschien 1929 und trug in der deutschen Version den Titel Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Der Erfolg ermunterte Trotzki, ein Angebot des New Yorker Verlags Simon & Schuster anzunehmen und eine Geschichte der Russischen Revolution zu verfassen, die 1932 erschien.[13] In der Zeit ab 1930 setzte sich Trotzki intensiv mit dem deutschen Nationalsozialismus auseinander, den er als vom Kleinbürgertum getragene, autonom von der Bourgeoisie entstandene Massenbewegung analysierte, deren objektive Funktion die Zerschlagung der gesamten Arbeiterbewegung sei. Als Gegenstrategie setzte sich Trotzki in Schriften wie Gegen den NationalkommunismusSoll der Faschismus wirklich siegenWie wird der Nationalsozialismus geschlagen? und Was Nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats für eine Einheitsfront von SPDKPD und Freien Gewerkschaften gegen die NSDAP ein.
1929 hatte Stalin begonnen, die „Neue Ökonomische Politik“ zu revidieren, mit großer Grausamkeit die Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen und mit Arbeitsarmeen die Schwerindustrie der Sowjetunion zu errichten. Auch dies wurde von Trotzki und seinen Anhängern, der Untergrundpartei der Linken Opposition, einer scharfen Kritik unterzogen. Trotzki hatte sich für eine umfassende Industrialisierung in einem langsameren Tempo und eine freiwillige Kollektivierung der Bauernschaft auf der Basis einer neu zu errichtenden Sowjetdemokratie ausgesprochen. Trotzki schrieb im Exil Pamphlete gegen Stalin, die unter anderem exklusiv in der New York Times veröffentlicht wurden.[14]
Am 20. Februar 1932 wurde Trotzki die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt, womit gleichzeitig die Verfolgung durch den sowjetischen Geheimdienst GPU begann. Mit der kampflosen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, die Trotzki im Wesentlichen als Resultat des Versagens von KPD und Komintern ansah, nahm Trotzki von seiner 1929 bis 1933 vertretenen Strategie einer Reform der stalinistischen Parteien und der Komintern Abstand und nahm Kurs auf die Gründung einer neuen, „vierten“ kommunistischen Internationalen und führte in diesem Rahmen zunächst auch (zumeist letztendlich erfolglose) Verhandlungen mit den im Londoner Büro zusammengeschlossenen Gruppen wie der SAPD oder der niederländischen Organisation um Henk Sneevliet.
Die französische Regierung Daladiers gewährte ihm Asyl in Frankreich. Er hielt sich zunächst in St.Palais sur Mer[15], später in Barbizon auf. Für Paris erhielt er keine Zugangserlaubnis. Bereits 1935 wurde ihm signalisiert, dass sein Aufenthalt in Frankreich nicht länger erwünscht sei. Er nahm ein Angebot Norwegens auf Asyl an. Er lebte dort als Gast Konrad Knudsens in Hønefoss nahe Oslo. Mit seiner regen publizistischen Tätigkeit griff er den Stalinismus mit den Moskauer Prozessen an, in denen er als Haupt einer großen Verschwörung gegen Stalin und sein System in Abwesenheit angeklagt worden war. Infolge des von der Sowjetunion ausgeübten diplomatischen Drucks wurde Trotzki von den norwegischen Behörden unter Hausarrest gesetzt. Nach Verhandlungen mit der norwegischen Regierung konnte er unter der Auflage strenger Geheimhaltung auf einem Frachtschiff nach Mexiko ausreisen.

Leo Trotzki in Mexiko 1938

Trotzki (Mitte) kurz vor seinem Tod
Gemeinsam mit Frida Kahlo hatte sich Diego Rivera beim mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas del Río dafür eingesetzt, Trotzki politisches Asyl in Mexiko zu gewähren. Unter der Bedingung, dass jener sich nicht politisch betätigen würde, stimmte der Präsident dem Gesuch zu.[16] Im Januar 1937 wurden Trotzki und dessen Frau Natalja Sedowa in Kahlos blauem Haus in Coyoacán empfangen. Im Jahr 1938 beherbergte Rivera auch den surrealistischen Vordenker André Breton und dessen Frau Jacqueline. Die beiden Künstler unterzeichneten ein von Trotzki verfasstes Manifest für eine revolutionäre Kunst.
In seinem Exil agitierte er weiterhin gegen Stalin, deckte nach seinen Möglichkeiten die Verbrechen der GPU und der Gulags auf und veröffentlichte verschiedene kommunistische Schriften, zum Beispiel 1936 Die verratene Revolution, in der er die Sowjetunion als „bürokratisch degenerierten Arbeiterstaat“ bezeichnete und die sowjetische Arbeiterklasse zu einer politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie und zur Wiederherstellung der Rätedemokratie aufrief. Die von der Zensur kontrollierte sowjetische Presse griff ihn dafür als „Wolf des Faschismus“ an.[17]
1938 gründete Trotzki die Vierte Internationale, um der inzwischen unter Stalins Dominanz stehenden Dritten Internationalen entgegenzuwirken. Für die neugegründete Organisation verfasste Trotzki im selben Jahr mit Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale (besser bekannt als „Das Übergangsprogramm“) und 1940 mit dem Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution grundlegende programmatische Dokumente. Daneben widmete er sich in seinem letzten Lebensjahr der Auseinandersetzung mit der von James Burnham und Max Shachtman vertretenen These, dass sich die Sowjetunion zu einer stabilen neuen Form von Klassengesellschaft entwickelt habe.

Gorbatschow-Vertraute Jegor Jakowlew  1989 äußerte sich 1989 gegenüber dem deutschen Politiker Gregor Gysi: „Trotzki war ein erbarmungsloser Mensch, dessen Hände über und über mit Blut befleckt sind.“

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