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Freitag, 27. September 2019

WELTWEITER JUDENHASS (IV)

BEGRIFFSERKLÄRUNG

Antisemitismus
1. Abneigung oder Feindschaft gegenüber den Juden
2. [politische] Bewegung mit ausgeprägt antisemitischen Tendenzen
Judenfeindlichkeit 
Judenhass = gegen die Juden gerichteter Hass

Antike Judenfeindschaft

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Antike Judenfeindschaft bezeichnet eine Judenfeindlichkeit in der Epoche der antiken Geschichte Israels (etwa 1300 v. bis 135 n. Chr.), die sich seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. im Tanach und außerbiblischen Quellen niederschlug. Verfolgungen des Judentums zielten unter Antiochos IV. um 170 v. Chr. erstmals auf dessen Vernichtung, blieben aber regional und zeitlich begrenzt und erfolglos. In der Römischen Kaiserzeit führte der „Systemkonflikt“ zwischen antikem Multikulturalismus mit dem Judentum zu mehreren Kriegen, in deren Verlauf die Römer den zweiten Jerusalemer Tempel zerstörten (70) und Juden die Ansiedlung in Jerusalem verboten (135 n. Chr.). Seit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion (bis 380) wurde die Unterdrückung jüdischer Minderheiten in der Geschichte Europas zum verbreiteten Dauerzustand.[1]
Antike Judenfeindschaft gilt in der Antisemitismusforschung als eine der historischen Wurzeln des Antijudaismus und des Antisemitismus.

Israel und die Völker in der Bibel

Das Volk Israel sah sich von frühesten Anfängen an als Fremdkörper in einer feindlichen Umwelt, gegen die es sich behaupten musste. In den vorderasiatischen Hochkulturen der Antike wurde das Judentum jedoch frühestens mit der Entstehung des (ungesicherten) Königreichs Israel um 1000 v. Chr. als politische Größe wahrnehmbar, nachweislich sogar erst mit dem belgbaren Nachfolgreich in Nordisrael. Das Gebiet der Israeliten besetzten wechselnde Großreiche häufig, darunter ÄgypterAssyrerBabylonierPerserMederMakedonen und Römer. Deren Politik richtete sich auf politische Einheit und Zusammenhalt ihres Reiches, so dass sie die Religionen der unterworfenen Völker zum Teil bestehen ließen.
Das Judentum lehnte den PolytheismusSynkretismus und die orientalischen Gottkönigskulte aufgrund seines Glaubens an den einzigen Schöpfergott (religionsgeschichtlich als Monotheismus kategorisiert) ab. Es verstand sich als von diesem Gott erwähltes Volk mit einem Auftrag für alle übrigen Völker (Gen 12,3). Dies machte gläubigen Juden die Teilnahme an den Kulten der umgebenden Völker unmöglich. Besonders die mehrfach exilierten Juden konnten ihre Identität nur in Abgrenzung von den ihnen übermächtig erscheinenden Fremdkulten ihrer Umgebung bewahren. In seinem in der Antike einmaligen, schriftlich kodifizierten und tradierten Glauben lag eine Ursache der späteren, teilweise systematischen Judenfeindschaft der griechisch-römischen Oberschichten.[2]
Bis 1945 behaupteten Historiker und Theologen oft, die antike Judenfeindschaft sei gleichzeitig mit dem Judentum selbst entstanden und nur aus dem exklusiven Erwählungsglauben des Volkes Israel zu erklären. Diese Sicht folgte unkritisch der biblischen Geschichtsschreibung, die die von JHWH gewollte Sonderstellung der Juden unter den Völkern als Ursache der Ablehnung dieses Volkes betonte.

Assyrien und Babylonien

Die gewaltsame Deportation der Oberschichten war eine übliche Methode antiker Großreiche, eroberte Länder zu befrieden und sich einzuverleiben. Die Assyrer deportierten erstmals 733 v. Chr. 6.000 Einwohner aus dem Nordreich Israel, 722 v. Chr. nochmals ca. 27.000 aus dem Reststaat Samaria. Damit endete Nordisraels Existenz als Staat. 586 v. Chr. zerstörten die Babylonier unter Nebukadnezar II. Jerusalem mitsamt seinem Tempel und führten die gesamte Führungselite aus dem Reich Juda nach Babylon.
Im Babylonischen Exil entstanden eine Reihe jüdischer Siedlungen, die auch nach Beendung der babylonischen Herrschaft und Rückkehrerlaubnis des Perserkönigs Kyros II. (539 v. Chr.) bestehen blieben. Auch in Ägypten war seit 586 eine jüdische Gemeinde aus Flüchtlingen entstanden, deren Mitglieder als Söldner der Perser um 550 v. Chr. die Erlaubnis eines eigenen Tempelbaus in Elephantine erhielten.
Nach der Rückkehr aus dem Exil hatten Esra und Nehemia um 450 v. Chr. die Absonderung von den anderen Völkern zur Grundlage des neuen jüdischen Staates gemacht, um die eigene kulturelle Identität nicht zu verlieren. Diese Absonderung von der synkretistischen Umwelt erzeugte Misstrauen gegenüber den Juden, aber auch ihre gesellschaftliche Spaltung. Während das einfache Volk am Gesetz Esras und Nehemias festhielt, öffneten sich besonders Kreise der Oberschicht für die hellenistische Kultur.

Persien

Das um 150 v. Chr. entstandene Buch Ester berichtet von einem Ausrottungsversuch aus der Perserzeit: Danach soll Staatsminister Haman seinem König Ahasveros um 472 v. Chr. nahegelegt haben (Est 3,8f. EU):
„Es gibt ein Volk, zerstreut und abgesondert unter allen Völkern in allen Ländern deines Königreichs, und ihr Gesetz ist anders als das aller Völker, und sie handeln nicht nach des Königs Gesetzen. Es ziemt dem König nicht, sie gewähren zu lassen. Gefällt es ihm, so lasse er verfügen, dass man sie umbringe. Dann werde ich 10000 Zentner Silber abwiegen […] und in die Schatzkammer des Königs bringen lassen.“
Demnach ging es um eine Bereicherung am Besitz der Juden, die mit ihrer Fremdartigkeit und angeblichen Auflehnung gegen Staatsgesetze gerechtfertigt wurde. Eine außerbiblische Bestätigung dieses Plans fehlt; die sonst recht zuverlässige damalige jüdische Geschichtsschreibung könnte die Angriffe von Antiochos IV. in die Perserzeit zurückprojiziert haben. Dann würde der Bericht eine nachpersische Feindseligkeit gegen das Judentum im Gefolge der makkabäischen Aufstände spiegeln. Das Buch Esther machte den Juden am Rande des Verlustes ihrer religiösen und kulturellen Identität Mut, indem es von einem früheren, gescheiterten Versuch berichtet, das Judentum zu vernichten. Dieses Schicksal konnten wie damals Esther mutige Juden abwenden.[3]

Hellenismus

Alexander der Große schuf mit seinen Eroberungen das Großreich Makedonien, das sich lange vom Bosporus bis zum Indus erstreckte. Darin wurden überall neue Handelsstädte gegründet, in denen sich auch Juden ansiedelten. Charakteristisch für die makedonischen Herrscher war wie für die Perser eine Akzeptanz der kulturellen Traditionen der unterworfenen Völker: Eine stabile Zentralherrschaft war nur durch die Kooperation mit den örtlichen Eliten, vor allem der Priesterschaft möglich. Das wurde durch den Polytheismus ermöglicht, der für alle antiken Großreiche kennzeichnend war. Danach wurden fremde Götter unter neuen Namen in das eigene Pantheon integriert.
Im Orient waren ethnisch organisierte Gruppen in fremder Umgebung eine häufige und prinzipiell akzeptierte Erscheinung (Politeuma). Sie waren vom guten Willen der Obrigkeit abhängig und verhielten sich politisch überwiegend loyal zu den dortigen Herrschern. Juden waren in den aufstrebenden Städten des Mittelmeerraums als belebender Wirtschaftsfaktor meist beliebt und wurden privilegiert, um sie zum dauerhaften Ansiedeln zu bewegen. Sie behielten ihre eigenen religiösen Traditionen, lehnten die Vielgötterei und Gottesbilder ab und hielten ihre Gebräuche wie die Sabbatruhe, Reinheitsgesetze, jüdische Speisegesetze fest. Dies wurde in der kosmopolitischen multikulturellen Umgebung in der Regel respektiert. Jüdische Handelsprivilegien führten unter Umständen aber zu Spannungen mit der übrigen Stadtbevölkerung, die ebenso „fremdbeherrscht“ lebte. Dann konnten sie den Schutz ihrer Herrscher verlieren, da diese die Konflikte zugunsten ihrer Machtsicherung möglichst ersticken mussten.
Während die klassische griechische Philosophie vom Judentum noch keine Notiz nahm, kam es in der jüdischen Diaspora zu einem regen geistigen Austausch. Griechische Denker wie Theophrastus und Megasthenes sprachen mit Hochachtung vom Judentum und sahen in dessen Streben nach einer von Gottes Geboten bestimmten Lebensführung große Übereinstimmung zu ihrem Denken. Umgekehrt betrachteten auch jüdische Theologen Pythagoras und Platon als legitime Schüler von Moses.
Nach Alexanders Tod 323 v. Chr. zerbrach sein Großreich, und es kam zu Nachfolgekriegen. Die Seleukiden versuchten ihre Macht durch stärkere Hellenisierung zu sichern. Das Festhalten der Juden an ihren Bräuchen, die wachsende Bekanntheit ihrer Religion, wirtschaftliche Privilegien von und politische Konflikte mit Juden erzeugten und verstärkten nun eine verbreitete religiöse und kulturelle Ablehnung des Judentums. Die nicht nur religiös-kulturellen, sondern vor allem auch sozialen Auseinandersetzungen spitzten sich immer weiter zu, bis die „Pro-Hellenisten“ ihre Gegner ausschalten wollten, indem sie den seleukidischen König Antiochos IV. Epiphanes 168 dazu bewogen, die jüdische Religion zu verbieten und die Hellenisierung der jüdischen Gesellschaft zu vollenden. Antiochos gilt daher im damals entstandenen Buch Daniel als Erzfeind und „Gotteslästerer“, da er Israels Religion habe vernichten wollen (Dan 7,25 EU). Tatsächlich provozierte das für die in religiöser Hinsicht toleranten hellenistischen Herrscher einmalige Religionsedikt des Antiochos einen Volksaufstand: Nach verlustreichen Kämpfen (175–164 v. Chr.) gelang es Judas Makkabäus, die seleukidischen Truppen aus Jerusalem zu verjagen. Die erfolgreichen Aufstände der Makkabäer schufen ab 167 v. Chr. wieder eine relative staatliche Unabhängigkeit Israels, so dass sich die Beziehungen zwischen jüdischen Diasporagemeinden und dem Kernland intensivierten. Anders als andere Minderheiten erreichten die Juden unter den Seleukiden fortan vielerorts Befreiung von der Pflicht zur Verehrung lokaler Gottheiten und das Recht, eine Tempelsteuer an die Jerusalemer Priester zu zahlen. Zugleich wurde das Judentum eine missionierende Religion, deren Gemeinden viele Proselyten gewannen und so wuchsen.[4]

Römisches Reich

Aus den Nachfolgern des Judas Makkabäus ging das Königshaus der Hasmonäer hervor, das Judäa rund 100 Jahre lang staatliche und religiöse Autonomie sichern konnte. Infolge der Unabhängigkeit wuchs die Judenfeindschaft unter den Griechen des Ostens. Viele Gelehrte sahen den Zerfall des Seleukidenreiches nicht als Folge seiner inneren Schwäche an, sondern machten den „Verrat“ Judäas im Zusammenspiel mit dem übermächtigen Rom verantwortlich. Die expansive Politik der Hasmonäer, die mit Zwangsjudaisierungen verbunden war, verschlimmerte das Bild der Juden unter den Griechen. Sie übernahmen ägyptische Vorwürfe und entwickelten sie weiter, um die Juden bei den neuen Herren in Rom zu diffamieren und einen Keil zwischen die Verbündeten zu treiben.[5]
Als das Römische Reich den Mittelmeerraum eroberte, gab es überall in der damals bekannten Welt jüdische Enklaven außerhalb Israels. Besonders große Diasporagemeinden gab es seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. in Antiochia (Kleinasien), Damaskus (Syrien) und Alexandria (Ägypten), seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. auch in Rom. Die Römer übernahmen die ägyptisch-griechische antijüdische Polemik gegen die Juden nahtlos von ihren griechischen Lehrern: CiceroSenecaQuintilianJuvenal u. a. griffen Motive daraus auf und verbreiteten sie. Man kannte jüdische Sitten wie die Beschneidung kaum und bewertete sie als „barbarisch“. Bei Tacitus etwa hieß es zudem, Juden seien „den Göttern verhasst“ und „den übrigen Religionen entgegengesetzt“. Auch der Vorwurf des odium humani generis – Hass auf alle Menschen – wurde stereotyp. Das unterschied diese antijüdische Polemik von der sonstigen römischen Verachtung der „Barbaren“. Darum spricht man hier von einem antiken Antijudaismus in Roms Bildungsschicht des 1. Jahrhunderts. Dieser verschärfte sich nach den Niederlagen der Juden in Judäa.
64 v. Chr. eroberte Pompeius Judäa für die Römer. Diese schützten anfangs die Privilegien der Juden in ihrem Reich. Doch mit dessen Ausdehnung mussten sie ihre Herrschaft stärker zentralisieren. Rückhalt dafür gewannen die römischen Kaiser oft nur, wenn sie sich das Wohlverhalten einiger Völker erkauften und auf deren Wünsche eingingen. Diese „Toleranz“ ging mit der Durchsetzung des Kaiserkults einher, den Juden nicht ohne religiöse Selbstaufgabe anerkennen konnten. Die jüdische Religion war als religio licita (zugelassene Religion) – bis auf kurzfristige Ausnahmen – vom Kaiserkult befreit.[6] Im Jahr 6 n. Chr. hob Augustus die Privilegien der Juden auf, gestattete „nationalistischen“ Kreisen Hetze gegen sie und Beraubung ihres Eigentums. Kaiser Tiberius verfügte 19 die Vertreibung der Juden aus Rom und später die Einsetzung des Pontius Pilatus zum Statthalter Judäas. Dieser provozierte die Juden gleich beim Amtsantritt mit Kaiserstandarten im Jerusalemer Tempelbezirk. Sein brutales Durchgreifen gegen jede antirömische Regung wurde vom antijüdischen Berater des Kaisers, Lucius Aelius Seianus, gedeckt.
38 folgte mit kaiserlicher Duldung ein großes Pogrom an den Juden in Alexandria: Ihre Synagogen wurden zerstört, viele wurden gefoltert und massakriert, der Rest wurde verjagt. Darauf reagierten die Diasporajuden im römischen Reich mit verstärkter Abgrenzung: Sie verweigerten die Tisch-, Ehe- und Kult-Gemeinschaft mit Andersgläubigen vor Ort. Das sahen diese wieder als Beweis dafür, dass Juden (wahlweise) arrogant und elitär, primitiv und rückständig seien.
41 wollte Caligula seine Kolossalstatue im Tempel aufstellen lassen. Das hätte zum Krieg geführt. Er wurde vorher ermordet. Sein Nachfolger Claudius versuchte die wachsenden Spannungen vergeblich zu mildern. Es folgten drei Aufstände der Juden gegen die Römer: der Jüdische Aufstand 66 bis 70, der Aufstand in Alexandria 115 bis 117 und der Bar-Kochba-Aufstand 132 bis 135.
Der erste jüdisch-römische Krieg endete mit der Zerstörung des Tempels und der Tempelstadt durch die Römer, nach dem dritten verloren die Juden auch noch ihr Recht auf Wiederansiedelung in Jerusalem und die relative staatliche Autonomie. Die Provinz Judäa wurde in Palästina umbenannt und direkter römischer Verwaltung unterstellt. Ihre Bewohner waren großenteils ermordet, vertrieben oder verhungert. Die restlichen Juden wurden im ganzen Römischen Reich zerstreut. Die Römer wollten die Aufständischen vernichten und künftige Aufstände verhindern, hatten aber damit nicht vor, alle Juden auszurotten. Es ging ihnen um Machtsicherung und Unterdrückung jüdischer Glaubenstraditionen, aus denen die Rebellion hervorgegangen war.
Im ersten Jahrhundert lassen sich auf jüdischer Seite grob drei Reaktionsmuster unterscheiden:
  • Anpassung und Apologetik: Gebildete Historiker und Philosophen wie Flavius Josephus und Philo von Alexandria verteidigten das Judentum gegen andere hellenistische und römische Schriftsteller.
  • politisch-religiöser Widerstand: Die Zeloten übten strikte Absonderung gegenüber „Heiden“, d. h. Nichtjuden, Hass auf jüdische Kollaborateure und gewaltsame Selbstverteidigung mit Attentaten und Bereitschaft zum Martyrium (zum Beispiel kollektiver Suizid in Massada). Dem entsprachen Rache- und Machtphantasien in der jüdischen Apokalyptik, zum Beispiel Dan 7,26f. EU.
  • Konsolidierung, Bewahrung und Weiterentwicklung der eigenen Traditionen: So entstanden im 1. Jahrhundert aus der Halacha (mündlichen Tora-Auslegung) und Mischna (Sammlung rabbinischer Toraauslegungen) die bis heute zentralen religiösen Schriften des Judentums: der Babylonische und der Jerusalemer Talmud.

Christentum


Während das Urchristentum sich als Teil des Judentums verstand und die biblische Erwählung Israels zum Volk Gottes anerkannte, grenzte sich das um 100 zur eigenen, überwiegend aus Nichtjuden bestehenden Religion gewordene Christentum zunehmend gegen das Judentum ab und übernahm dazu auch die traditionellen ägyptisch-römischen antijüdischen Stereotype. Während die ägyptische Polemik gegen die Exodustradition sich leicht als Verzerrung der Bibel widerlegen ließ, entzog die frühe christliche Theologie den jüdischen Apologeten diese Basis. Sie behauptete mit dem Erscheinen des Messias Jesus von Nazaret eine Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen zu besitzen, die Israels Heilserwartung überholt und beendet habe. Daher sei die Erwählung zum Volk Gottes nun auf die übergegangen, die an Jesus Christus glauben.
Als die Juden ihr Glaubenszentrum in Jerusalem verloren hatten, wurde aus dieser innerjüdischen Abgrenzung bald eine antijudaistische Theologie, die gegenüber Römern auch auf die hellenistisch-römische Polemik gegen Juden zurückgriff. Nun bekamen diese Zerrbilder ein neues Fundament: Israel wurde grundsätzlich jeder eigene Zugang zum Heil abgesprochen. Die Alexandriner hatten die Juden vertrieben, weil die „Seuche“ ihres Erwählungsbewusstseins sich nicht mit ihren hellenistisch-kosmopolitischen Vorstellungen vertrug: Die christliche Theologie ging dagegen den Weg der völligen theologischen Enteignung Israels. Damit war der Grund gelegt für die kontinuierliche Judenfeindlichkeit im christlichen Europa.
Dies führte in der Antike nicht sofort zur Ausgrenzung der Juden, wohl aber zu einer Veränderung der Lage des Diasporajudentums: Nun sahen sich die Juden im römischen Reich nicht nur einem feindlichen Staat, sondern auch einer konkurrierenden Religion gegenübergestellt, die dieselben religiösen Traditionen für sich beanspruchte wie sie selbst, diese aber gegen das Judentum wendete.
Dennoch versuchten die verschiedenen christlichen Kaiser teils die römische Rechtstradition zu bewahren und erließen auch Schutzvorschriften für Juden. Dies wurde nötig, weil die jüdischen Gemeinden nach der Konstantinischen Wende als früher teilweise rechtlich privilegierte Minderheit nun mehr und mehr an den Rand gedrängt, verachtet und ausgegrenzt wurden. Der Antijudaismus ist eine Fortentwicklung.

Donnerstag, 26. September 2019

WELTWEITER JUDENHASS (III)

Der König Rothschild. Antisemitische Karikatur auf der Titelseite der französischen Zeitschrift Le rire (16. April 1898). Dargestellt ist ein Mitglied der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild, der die ganze Welt in seinen Krallen hält.

Antisemitismus

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Der wandernde Ewige Jude, farbiger Holzschnitt von Gustave Doré, 1852, Reproduktion in einer Ausstellung in Yad Vashem, 2007
BEGRIFFSERKLÄRUNG

Antisemitismus
1. Abneigung oder Feindschaft gegenüber den Juden
2. [politische] Bewegung mit ausgeprägt antisemitischen Tendenzen
Judenfeindlichkeit 
Judenhass = gegen die Juden gerichteter Hass
Als Antisemitismus werden heute alle Formen von Judenhass, pauschaler JudenfeindschaftJudenfeindlichkeit oder Judenverfolgung bezeichnet. Der Ausdruck wurde 1879 von deutschsprachigen Antisemiten geprägt und entwickelte sich seit dem Holocaust zum Oberbegriff für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund ihrer angenommenen oder realen Zugehörigkeit zu „den Juden“ negative Eigenschaften unterstellen. Damit werden Ausgrenzung, Abwertung, DiskriminierungUnterdrückung, Verfolgung, Vertreibung bis hin zur Vernichtung jüdischer Minderheiten (Völkermord) gefördert, vorbereitet und/oder gerechtfertigt.[1]
Pauschale Judenfeindschaft hat eine rund 2500 Jahre alte Tradition, in der sich eine Vielzahl Bilder, Gerüchte, Klischees, Vorurteile, Ressentiments, Stereotype von „dem“ oder „den“ Juden bildeten, überlagern und durchdringen. Während die Anlässe, Motive, Begründungen und Zwecke der Judenfeindschaft je nach Zeitumständen und Trägergruppen wechselten, zeigen die dafür benutzten Bilder große Konstanz und Ähnlichkeiten. Die Antisemitismusforschung hat daher keine allgemeingültige Definition des Phänomens aufgestellt. Die deutschsprachige Forschung unterscheidet zumindest vier Hauptformen:
In allen Hauptformen lassen sich religiöse, soziale, politische, kulturelle und verschwörungstheoretische Motive unterscheiden, die historisch jedoch meist miteinander verbunden auftreten. Zudem unterscheidet die Forschung latente und manifeste, oppositionelle und staatliche Ausdrucksformen.[4]
Im Unterschied zu allgemeiner Fremdenfeindlichkeit wird Antisemitismus mit angeblich unveränderlichen Eigenschaften von Juden begründet, die oft auch gleichbleibend bezeichnet und dargestellt werden. Juden sollten als „Feinde der Menschheit“ (Antike), „Brunnenvergifter“, „Ritualmörder“, „Wucherer“ (Mittelalter und frühe Neuzeit), „Parasiten“, „Ausbeuter“, „Verschwörer“ und heimliche „Weltherrscher“ (seit der Aufklärung) immer die angeblichen Verursacher aller möglichen negativen Fehlentwicklungen und menschengemachten Katastrophen sein. So ähneln sich antijüdische Karikaturen durch die Jahrhunderte stark. Diese fiktiven Trugbilder (Chimären) haben sich bis in die Gegenwart als außergewöhnlich stabil und anpassungsfähig erwiesen. Sie haben nichts mit der Realität jüdischen Daseins zu tun, sondern verzerren dessen Besonderheiten ideologisch und benutzen sie für verschiedene Zwecke. Sie gelten daher laut Wolfgang Benz als besonders typisches und wirkungsmächtiges Beispiel „für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder“.[5]


    Begriff

    Die Französische Revolution von 1789 hatte die Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte und die Bildung von Nationalstaaten europaweit begünstigt. Damit begannen auch andere Staaten ihre Staatsbürger rechtlich gleichzustellen und leiteten eine jüdische Emanzipation ein. Nationalistische Einigungsbewegungen bekämpften diese und suchten der veränderten historischen Lage angepasste Gründe für den tradierten Judenhass des vom Christentum geprägten Mittelalters.
    Der Ausdruck „Antisemitismus“ ist eine Neuschöpfung deutscher Antisemiten im Umfeld des Journalisten Wilhelm Marr. Er zielte darauf, „die Judenfeindschaft mit der Zugehörigkeit der Juden zur semitischen Rasse und Völkerfamilie zu begründen und ihr das Gepräge einer auf letzte Ursachen zurückgehenden wissenschaftlichen Lehre zu geben“ (Edmond Jacob: Artikel Antisemitismus, in: Encyclopaedia Judaica, 1928, Sp. 957). Historisch richtete sich der neue Begriff jedoch nie gegen semitische Völker insgesamt, sondern immer nur gegen Juden.[6] Obwohl die semitische Sprachfamilie viele verschiedene Völker umfasst, blieb „Antisemitismus“ stets auf Juden als ethnisches Kollektiv begrenzt. Der Begriff ist also eine etymologische Fehlprägung und vom Ursprung her rassistisch und pseudowissenschaftlich.[7]
    Als „Semiten“ wurde seit 1771 eine Sprachfamilie bezeichnet, um sie von der Sprachfamilie der „Arier“ zu unterscheiden. Nationalisten wie Christian Lassen und Ernest Renan machten beide Bezeichnungen zu ideologischen Sammelbegriffen für entgegengesetzte Nationalcharaktere und Kulturtypen. Indem man Juden als „Semiten“ bezeichnete, wurden sie als ethnische Abstammungsgemeinschaft mit minderwertigen Eigenschaften dargestellt. Ab 1855 wurde dieses Gegensatzpaar auch mit der Rassentheorie von Arthur de Gobineau verknüpft.[8] 1860 wies der Bibliograph Moritz Steinschneider Renans Thesen, das Judentum behindere den politischen Fortschritt der Menschheit durch seine Zerstreuung und sein religiöses Erwählungsbewusstsein, als „antisemitische Vorurteile“ zurück.[9] Bis 1865 war „Semitismus“ oder „Semitentum“ als Schlagwort lexikalisch etabliert.[8] Es lag daher nahe, das Antonym „Antisemitismus“ für die Ideologie und Ziele judenfeindlicher Organisationen zu verwenden.
    Das Substantiv ist erstmals im Dezember 1879 in einem Zeitungsbericht über die Antisemitenliga belegt, die Marr im September 1879 gegründet hatte. Es bezeichnete deren politisches Programm, den „Semitismus“ zu bekämpfen. Der Ausdruck diente Antisemiten dazu, sich vom affektgeladenen Judenhass des Mittelalters abzugrenzen und ihren Zielen einen rationalen, aufgeklärten Anstrich zu geben.[9] Ab 1880 bezeichnete „Antisemitismus“ auch die Ziele der „Berliner Bewegung“ um Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke und der Unterzeichner der „Antisemitenpetition“.[10]
    Da die jüdische Minderheit keine einheitliche Ideologie und Partei vertrat, die die Antisemiten hätten bekämpfen können, konstruierten sie einen völkisch-rassischen Gegensatz und machten das tradierte Schimpfwort „der Jude“ zum Inbegriff aller negativ erlebten und gedeuteten Zeiterscheinungen seit der Aufklärung. Er besitze und lenke die kritische Presse, infiltriere die Nation mit egoistischem Gewinnstreben, kalter Zweckrationalität, fremden Ideen und Tendenzen: RationalismusMaterialismusInternationalismusIndividualismusPluralismusKapitalismus (Manchesterliberalismus), DemokratieSozialismus und Kommunismus. Er sei schuld am Zerfall („Zersetzung“) traditioneller Gesellschaftsstrukturen, an Ausbeutung, Wirtschaftskrisen, Kapitalkonzentration und Inflation, Uneinigkeit und Schwäche der Nation. Als Zusammenfassung solcher anti-jüdischen und rassistischen Stereotype wurde der Begriff „Antisemitismus“ im Kaiserreich wie auch im Zarenreich RusslandKaisertum Österreich und nachrevolutionären Frankreich rasch Allgemeingut. Er blieb etwa 75 Jahre lang die Eigenbezeichnung „prinzipieller“ Judenfeinde, die mit der Bekämpfung des „Semitismus“ die Isolierung, Vertreibung und schließlich die Vernichtung der Juden anstrebten.
    Um gerade auch europäische, assimilierte Juden als eigene „Rasse“ von anderen „semitischen Völkern“ abzugrenzen, lehnte schon der Antisemit Eugen Dühring den Begriff „Antisemitismus“ ab. Um die Zusammenarbeit des NS-Regimes mit den Arabern machttaktisch zu gewährleisten, forderte das Reichspropagandaministerium im August 1935 die deutsche Presse auf, „das Wort: antisemitisch oder Antisemitismus zu vermeiden, weil die deutsche Politik sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlechthin richtet. Es soll stattdessen das Wort: antijüdisch gebraucht werden.“ 1943 verlangte Alfred Rosenberg von der deutschen Presse, die Bezeichnung Antisemitismus mit Rücksicht auf die arabische Welt zu unterlassen. Denn mit dem Begriff bekunde das feindliche Ausland, die Deutschen würden „Araber und Juden in einen Topf werfen“.[11]
    Seit 1945 bezeichnet „Antisemitismus“ alle Aspekte judenfeindlicher Ideologie, die den Holocaust ermöglicht, vorbereitet, begleitet und gerechtfertigt haben. Antisemitismusforscher in IsraelGroßbritannien und den USA verwenden das Wort als Oberbegriff für pauschale, auch nichtrassistische Judenfeindlichkeit mit „eliminatorischen“ Zügen. Reinhard Rürup und Thomas Nipperdey (1972) wollten es dagegen auf jene rassistische Judenfeindschaft seit 1880 begrenzen, in der der Begriff aufgekommen war. Diese sei eine „grundsätzlich neue judenfeindliche Bewegung“, so dass deren Begriff nicht auf ältere, nichtrassistische Judenfeindlichkeit übertragbar sei.[12] Auch Alex Bein,[13] Jacob Katz,[14] Helmut Berding[15] und Hermann Greive betonten bei aller Kontinuität den Unterschied des „modernen“ Antisemitismus zu früherem Judenhass und lehnten den Ausdruck daher als Oberbegriff für „Judenfeindlichkeit“ ab.[16] Laut Georg Christoph Berger Waldenegg legt das Weiterverwenden des Begriffs nahe, dass es „spezifisch jüdisch-semitische Eigenschaften gegeben habe und immer noch gebe“.[17]
    Ernst Simmel dagegen urteilte: „Der Antisemitismus ist sich über Jahrhunderte hin im wesentlichen gleich geblieben, auch wenn sich seit der Aufklärung seine Ausdrucksformen verändert haben, so wie die ethischen Maßstäbe und die Sozialstrukturen jeder Epoche.“[18] Auch Shulamit Volkov zufolge ist es „mit der Neuheit des modernen Antisemitismus nicht weit her“.[19] Rita Botwinick sieht „Antisemitismus“ als „modernes Wort für eine althergebrachte Bösartigkeit“.[20] Eberhard Jäckel nennt den Begriff eine „sprachlich unzutreffende Bezeichnung für Judenhass“.[21] Léon Poliakov plädierte daher für „Antijudaismus“ als Oberbegriff für religiösen und rassistischen Judenhass,[22] Steven T. Katz verwendete „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ austauschbar.[23]
    Umstritten blieb auch die Einordnung der nicht mehr religiösen, noch nicht explizit rassistischen Judenfeindschaft zwischen 1750 und 1880. Alphons Silbermann unterscheidet darin „klassischen“ und „modernen“,[24] Winfried Frey „frühen“ oder „vormodernen“ und „modernen“ Antisemitismus.[25] Wolfgang Altgeld spricht für die Zeit bis 1800 von „aufgeklärter Judenfeindschaft“, bis 1848 von „frühnationalistischem Antijudaismus“.[26] Paul L. Rose nennt Judenfeindschaft ab 1800 „Antisemitismus“.[27]
    In der Umgangssprache wurde der Ausdruck „Antisemitismus“ seit 1945 gleichbedeutend mit „Judenhass“ oder „Judenfeindlichkeit“.[28] In der Forschung ist „Antisemitismus“ heute „Sammelbegriff für negative Stereotypen über Juden, für Ressentiments und Handlungen, die gegen einzelne Juden als Juden oder gegen das Judentum insgesamt sowie gegen Phänomene, weil sie jüdisch seien, gerichtet sind“.[29]

    Hauptformen

    Antijudaismus

    Als „Antijudaismus“ wird Judenfeindschaft bezeichnet, die sich auf die jüdische Religion bezieht, durch spezifische christliche Theologie begründet wird und sich oft auf antijüdisch ausgelegte Stellen des Neuen Testaments beruft. Hauptbedingung dafür war die christliche Mission unter Nichtjuden, so dass eine Mehrheit von Heidenchristen das überwiegend judenchristliche Urchristentum ablöste. Die Substitutionstheologie behauptete seit dem 2. Jahrhundert, Gott habe die Erwählung der Juden zum Volk Gottes aufgrund ihrer Ablehnung der Messianität Jesu Christi gekündigt und das Judentum bleibend verflucht, so dass Juden das Heil nur durch die christliche Taufe, also den Übertritt in die nunmehr erwählte Kirche erlangen könnten.
    Nachdem diese um 380 zur Staatsreligion des Römischen Reiches mit universalem Herrschaftsanspruch geworden war, wirkten sich die antijudaistischen Dogmen als sozial- und religionspolitische Diskriminierung jüdischer Minderheiten in Europa aus. Christen grenzten Juden seit dem 9. Jahrhundert aus den meisten Berufsbereichen aus und überließen ihnen nur noch verachtete Berufe wie den Trödelhandel, das Pfand- und Kreditwesen. Daraus entstanden Klischees wie das der arbeitsscheuen Wucherjuden, die zudem heimlich die Herrschaft über alle Christen oder sogar ihre Vernichtung anstrebten.
    Aus der seit 180 bekannten Anklage des „Gottesmords“, die allen Juden eine Kollektivschuld am Tod Jesu Christi gab, entwickelten sich im Hochmittelalter Ritualmordlegenden und Zuschreibungen wie der angebliche „Hostienfrevel“. Die antijüdische Kirchenpolitik nahm Züge einer systematischen Verfolgung an: Juden wurden zwangsgetauftghettoisiert, kriminalisiert und dämonisiertJudenpogrome fanden oft an hohen christlichen Feiertagen, besonders während der Kreuzzüge im 12. und 13. Jahrhundert, der Pestpandemie im 14. Jahrhundert und der Reconquista in Spanien im 15. Jahrhundert statt (~1450 limpieza de sangre, 1492 Alhambra-Edikt).
    In der Reformation schien Martin Luther 1521 zunächst eine Abkehr vom christlichen Antijudaismus anzubahnen, forderte nach jüdischen Missionserfolgen jedoch alle Fürsten zur Zerstörung der Synagogen und jüdischen Wohnungen, Internierung, Zwangsarbeit oder Vertreibung der Juden auf (Von den Juden und ihren Lügen 1543; siehe Martin Luther und die Juden).
    Die Aufklärung übernahm einige antijudaistische Stereotype, etwa die Gegenüberstellung einer vermeintlich national begrenzten und materialistischen jüdischen Hassreligion zu einer universalen und idealistischen christlichen Liebesreligion. Im 19. Jahrhundert gingen christliche und rassistische Judenfeindschaft ineinander über. So belebten christliche und antisemitische Judenfeinde gemeinsam die mittelalterlichen Ritualmordlegenden neu. Seit 1900 waren nationalistische Christen zugleich Antisemiten, so die evangelische Kirchenpartei „Deutsche Christen“ der NS-Zeit. Erst ab etwa 1960 wandten sich einige Kirchen infolge des Holocaust allmählich von der traditionellen Substitutionstheologie ab. Im Verhältnis von Kirchen und Judentum nach 1945 blieb die Judenmission Streitthema.

    Neuzeitlicher Antisemitismus

    Sozialer Antisemitismus bezieht sich auf den tatsächlichen oder eingebildeten sozialen Status von Juden in der Gesellschaft. Durch Berufsbeschränkungen wurden Juden in der Vergangenheit in die Berufe des Handels und Geldverleihens gedrängt. Im sozialen Antisemitismus kommt es zu einer Gleichsetzung von Börse, Finanzkapital und Geldgier mit dem Judentum.[30]
    Beim politischen Antisemitismus gelten die als homogenes Kollektiv gedachten Juden als einflussreiche soziale Macht, die sich in politischer Absicht zu gemeinsamem Handeln zusammen geschlossen haben, um die Herrschaft in einem Land oder gleich die Weltherrschaft zu erreichen. Dies soll durch eine geheime Planung in Gestalt einer „jüdischen Welt­verschwörung“ geschehen. In den Bereich des politischen Antisemitismus fallen die Protokolle der Weisen von Zion.[31]
    Der kulturelle Antisemitismus steht in engem Zusammenhang mit dem sozialen und politischen Antisemitismus. Hier werden Juden auf kultureller Ebene für die angeblich verderblichen Entwicklungen verantwortlich gemacht. Irritierende Neuerungen in Architektur, Kunst, Literatur oder Musik sahen Antisemiten als Folge des jüdischen Einflusses, der als dekadent bewertet, mit der kulturellen Moderne identifiziert und mit ihr abgelehnt wurde. Als Beispiel für den kulturellen Antisemitismus gilt die von der NS-Propaganda so bezeichnete „entartete Kunst“.[32]
    In Umkehrung des behaupteten „Gottesmords“ haben im Rahmen der Aufklärung atheistische und agnostische Autoren, wie Voltaire, der Baron von Holbach oder Friedrich Hegel, und mit ihnen hauptsächlich das revolutionäre Bürgertum der Französischen Revolution, die Juden der „Erfindung“ Gottes und des Monotheismus und der aus ihrer Sicht verwerflichen Hervorbringung des Juden Jesus Christus beschuldigt. Von Antiklerikalen wird so den Juden das Christentum angelastet.[33] So äußerte sich Voltaire gegenüber Juden: „Ihr übertrefft sämtliche Nationen mit euren unverschämten Märchen, eurem schlechten Benehmen und eurer Barbarei. Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal.“ Und an anderer Stelle: „Mich würde nicht im mindesten wundern, wenn diese Leute eines Tages gefährlich würden für das Menschengeschlecht.“[34]
    Der nationalistische Antisemitismus sieht in den Juden eine ethnisch, kulturell oder sozial nicht zur jeweiligen Nation gehörende Minderheit, die als Fremdkörper wahrgenommen und der Illoyalität gegenüber der Nation beschuldigt wird. Im Gegensatz zum rassistisch motivierten Antisemitismus im engeren Sinne könnte hier durch Assimilation und Religionsübertritt die Diskriminierung überwunden und die Integration in die Gesellschaft erreicht werden. Der nationalistische Antisemitismus hebt nicht allein auf die angeblichen ethnischen Unterschiede ab, sondern betont behauptete kulturelle Gegensätze oder mangelnde Loyalität gegenüber der jeweiligen Nation. Durch eine solche Ausgrenzung nimmt diese Form der Judenfeindschaft auch fremdenfeindliche Züge an. Teilweise wird auch der nationalistische Antisemitismus unter das engere Begriffsverständnis des Antisemitismus gefasst.

    Sekundärer Antisemitismus

    „Sekundärer Antisemitismus“ bezeichnet eine Form der Judenfeindschaft „nach Auschwitz“, die aufgrund des inhaltlichen Kontextes mit der Shoah auch, unter einem psychologisch-moralischen Gesichtspunkt, als „Schuldabwehr“-Antisemitismus bezeichnet wird.[32] Nach dem Holocaust trat der Antisemitismus als Staatsdoktrin zurück und seit den 1960er Jahren dominierten andere Ausdrucksformen. In Deutschland unterstellt man hierbei in der öffentlichen Auseinandersetzung über die Massenvernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs, sie diene nur der Diffamierung der nationalen Identität, der Gewährung fortgesetzter Wiedergutmachungs­zahlungen an Israel und der politischen Legitimation von deren Politik im Nahen Osten.[35]

    Antizionismus

    Antizionismus bezeichnet die Ablehnung des Zionismus und des Staates Israel. Er entstand seit 1918 aus Konflikten zwischen den in Palästina ansässigen Arabern und den in mehreren Wellen (Alijot) zuwandernden europäischen Juden. Diese Konflikte eskalierten 1936 zum arabischen Aufstand, führten nach der Staatsgründung Israels 1948 zu sechs Kriegen arabischer Staaten gegen Israel und zu zahlreichen bewaffneten Konflikten, die bis heute andauern. Diese verstärkten den Antizionismus in und außerhalb der Nahostregion. Die Sowjetunion betrachtete Israel seit 1950 als Brückenkopf der Vereinigten Staaten in der Region. Diese Ansicht übernahmen seit 1967 Teile der politischen Linken; im Spektrum des Antiimperialismus ist sie bis heute gängig.[36]
    Antizionismus kann judenfeindliche Motive enthalten oder verdecken. Islamische Organisationen wie die Muslimbrüder und die Hamas übernahmen Elemente des europäischen Antisemitismus. In Bezug auf die islamische und arabische Welt spricht man dann von einem islamischen oder islamisierten Antisemitismus. Auch bei Nichtmuslimen dient Antizionismus oft dazu, sich gegen Vorwürfe des Antisemitismus zu immunisieren, um Israel semantisch und inhaltlich auf analoge Weise wie „die Juden“ zu dämonisieren, zu delegitimieren und zu isolieren.
    Ein großer Anteil aller Juden weltweit (2010: 43 Prozent, mit steigender Tendenz) lebt seit 1945 in Israel,[37] das sich als Zufluchtsort aller Juden versteht. Antizionismus, der sich gegen das Existenzrecht Israels richtet, wird darum oft als getarnter Antisemitismus beurteilt.[38] Diese Israelfeindschaft verbindet Antiimperialismus, Rechtsextremismus und islamischen Extremismus und wirkt als potentielle Bedrohung aller Juden.[39]

    Aktuelle Arbeitsdefinitionen

    Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) verzeichnete infolge der Terroranschläge am 11. September 2001 eine Zunahme antisemitischer Tendenzen.[40] Um die strafrechtliche Behandlung solcher Tendenzen in den EU-Staaten zu erleichtern und zu vereinheitlichen, veröffentlichte die EUMC 2005 eine Arbeitsdefinition:
    Antisemitismus ist ein gegen jüdische oder nichtjüdische Individuen, ihr Eigentum, ihre Institutionen oder den Staat Israel gerichteter „Judenhass“. Er „klagt Juden häufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit an und wird oft benutzt, um Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich zu machen, ‚wenn etwas falsch läuft‘.“ Er drücke sich in Worten, Texten, Bildern und Taten aus und verwende dazu „unheilvolle Stereotypen und negative Charakterzüge“, etwa:
    • Aufrufe zum Töten oder Schädigen von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder extremistischen religiösen Sicht
    • verlogene, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Behauptungen über Juden oder die kollektive Macht von Juden, etwa eines Weltjudentums oder jüdischer Kontrolle von Medien, Regierungen usw.,
    • Juden kollektiv für reale oder vermeintliche Vergehen einzelner oder mehrerer Juden oder Nichtjuden zu beschuldigen,
    • Holocaustleugnung,
    • Juden als Kollektiv oder Israel zu beschuldigen, sie hätten den Holocaust erfunden oder dramatisiert,
    • jüdische Staatsbürger zu beschuldigen, sie seien loyaler gegenüber Israel oder vermeintlichen jüdischen Prioritäten weltweit als gegenüber ihren eigenen Staaten,
    • das Selbstbestimmungsrecht von Juden abzulehnen, etwa zu behaupten, Israel sei ein rassistisches Projekt,
    • doppelte Standards anzuwenden, also von Israel Verhalten zu fordern, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet wird,
    • klassisch-antisemitische Symbole und Bilder wie den Gottesmord-Vorwurf oder die Ritualmordlegende auf Israel oder Israelis anzuwenden,
    • Israels aktuelle Politik mit der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus zu vergleichen,
    • eine Kollektivverantwortung der Juden für Israels Politik zu behaupten.
    Kritik an Israel, die ähnlich auch gegenüber anderen Ländern geäußert wird, könne jedoch nicht als antisemitisch eingestuft werden.[41]
    Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beschloss nach Beratungen ihrer 31 Mitgliedsstaaten am 15. Mai 2016, die EUMC-Definition zu übernehmen:[42]
    „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
    Auch die Arbeitsdefinition „Antisemitismus“ des European Forum on Antisemitism (EFA) beruht auf der EUMC-Definition von 2005.
    Der Ministerrat Österreichs übernahm die IHRA-Arbeitsdefinition am 21. April 2017.[43] Die deutsche Bundesregierung stimmte dieser Definition am 20. September 2017 durch einen Kabinettbeschluss ebenfalls zu.[44]
    Die IHRC führt folgende aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre auf, die unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen können, ohne darauf beschränkt zu sein.
    „Beispiele:
    • Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
    • Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Juden.
    • Das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden.
    • Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z. B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
    • Der Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
    • Der Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
    • Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
    • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
    • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z. B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
    • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
    • Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.“
    – International Holocaust Remembrance Alliance, 26. Mai 2016.[45]
    Der Politikwissenschaftler und Soziologe Armin Pfahl-Traughber bemängelt an der Arbeitsdefinition fehlende Klarheit, Trennschärfe und Vollständigkeit und plädiert für deren grundlegende Überarbeitung. Es werde nicht deutlich, worin genau die „bestimmte Wahrnehmung“ bestehe. Antisemitismus sei keine Kritik, sondern Feindschaft „gegen Juden als Juden“. Zwar sei an der Definition begrüßenswert, dass artikuliert wird, dass sich die Judenfeindschaft der Gegenwart häufig genug über den Umweg der Israelfeindschaft ausdrücke, diese werde jedoch überbetont, die anderen Ideologievarianten des Antisemitismus kämen nur am Rande vor.[46] Auch der israelische Historiker Moshe Zimmermann kritisiert die „Schwammigkeit“ der IHRA-Definition. Sie erlaube es, jede Art von Kritik an Israel als antisemitisch zu bezeichnen. Das führe zu einer inflationären Verwendung des Begriffs und dazu, dass „dort, wo Antisemitismus wirklich zu finden ist, […] er möglicherweise nicht erkannt“ werde.[47]

    Weiterführende Informationen

    Literatur

    Da dieser Artikel einen Überblick über die verschiedenen Formen von Judenfeindlichkeit gibt, beschränkt sich die Literatur hier auf allgemeine Darstellungen zum Gesamtphänomen. Literatur zu speziellen Begriffen und Epochen ist den verlinkten Spezialartikeln vorbehalten.