Der König Rothschild. Antisemitische Karikatur auf der Titelseite der französischen Zeitschrift Le rire (16. April 1898). Dargestellt ist ein Mitglied der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild, der die ganze Welt in seinen Krallen hält.
Antisemitismus
BEGRIFFSERKLÄRUNG
Antisemitismus
1. Abneigung oder Feindschaft gegenüber den Juden
2. [politische] Bewegung mit ausgeprägt antisemitischen Tendenzen
Judenfeindlichkeit
Judenhass = gegen die Juden gerichteter Hass
Judenhass = gegen die Juden gerichteter Hass
Als Antisemitismus werden heute alle Formen von Judenhass, pauschaler Judenfeindschaft, Judenfeindlichkeit oder Judenverfolgung bezeichnet. Der Ausdruck wurde 1879 von deutschsprachigen Antisemiten geprägt und entwickelte sich seit dem Holocaust zum Oberbegriff für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund ihrer angenommenen oder realen Zugehörigkeit zu „den Juden“ negative Eigenschaften unterstellen. Damit werden Ausgrenzung, Abwertung, Diskriminierung, Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung bis hin zur Vernichtung jüdischer Minderheiten (Völkermord) gefördert, vorbereitet und/oder gerechtfertigt.[1]
Pauschale Judenfeindschaft hat eine rund 2500 Jahre alte Tradition, in der sich eine Vielzahl Bilder, Gerüchte, Klischees, Vorurteile, Ressentiments, Stereotype von „dem“ oder „den“ Juden bildeten, überlagern und durchdringen. Während die Anlässe, Motive, Begründungen und Zwecke der Judenfeindschaft je nach Zeitumständen und Trägergruppen wechselten, zeigen die dafür benutzten Bilder große Konstanz und Ähnlichkeiten. Die Antisemitismusforschung hat daher keine allgemeingültige Definition des Phänomens aufgestellt. Die deutschsprachige Forschung unterscheidet zumindest vier Hauptformen:
- den christlichen Antijudaismus, der Juden vorwiegend aus religiösen Motiven ablehnt und darum auch sozial und politisch ausgrenzt. Er herrschte in der Kirchengeschichte seit der Spätantike bis in die Neuzeit.
- den neuzeitlichen Antisemitismus, der Juden vorwiegend mit biologistischen und pseudowissenschaftlichen Begründungen als „Fremdkörper“ aus der Mehrheitsgesellschaft ausgrenzt. Er entstand seit der Aufklärung und verband sich im 19. Jahrhundert mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus. Der „Rassenantisemitismus“ gewann in der Zeit des Nationalsozialismus als Staatsideologie seine genozidale Wirkung.
- den „sekundären“ Antisemitismus. Dieser lehnt Juden nicht trotz, sondern gerade wegen des Holocaust ab. Er speist sich in Tätergesellschaften aus Schuldabwehr und dem Bedürfnis nach Täter-Opfer-Umkehr und passt Motive des traditionellen, „primären“ Antisemitismus den aktuellen Zeitumständen an.[2] Eine Sonderform davon ist der „Antisemitismus ohne Juden“.
- den Antizionismus, der sich gegen den 1948 gegründeten Staat Israel richtet. Sofern seine Vertreter das Existenzrecht Israels bestreiten und judenfeindliche Stereotype in delegitimierender Absicht auf Israel übertragen, handelt es sich um israelbezogenen Antisemitismus.[3]
In allen Hauptformen lassen sich religiöse, soziale, politische, kulturelle und verschwörungstheoretische Motive unterscheiden, die historisch jedoch meist miteinander verbunden auftreten. Zudem unterscheidet die Forschung latente und manifeste, oppositionelle und staatliche Ausdrucksformen.[4]
Im Unterschied zu allgemeiner Fremdenfeindlichkeit wird Antisemitismus mit angeblich unveränderlichen Eigenschaften von Juden begründet, die oft auch gleichbleibend bezeichnet und dargestellt werden. Juden sollten als „Feinde der Menschheit“ (Antike), „Brunnenvergifter“, „Ritualmörder“, „Wucherer“ (Mittelalter und frühe Neuzeit), „Parasiten“, „Ausbeuter“, „Verschwörer“ und heimliche „Weltherrscher“ (seit der Aufklärung) immer die angeblichen Verursacher aller möglichen negativen Fehlentwicklungen und menschengemachten Katastrophen sein. So ähneln sich antijüdische Karikaturen durch die Jahrhunderte stark. Diese fiktiven Trugbilder (Chimären) haben sich bis in die Gegenwart als außergewöhnlich stabil und anpassungsfähig erwiesen. Sie haben nichts mit der Realität jüdischen Daseins zu tun, sondern verzerren dessen Besonderheiten ideologisch und benutzen sie für verschiedene Zwecke. Sie gelten daher laut Wolfgang Benz als besonders typisches und wirkungsmächtiges Beispiel „für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder“.[5]
Begriff
Die Französische Revolution von 1789 hatte die Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte und die Bildung von Nationalstaaten europaweit begünstigt. Damit begannen auch andere Staaten ihre Staatsbürger rechtlich gleichzustellen und leiteten eine jüdische Emanzipation ein. Nationalistische Einigungsbewegungen bekämpften diese und suchten der veränderten historischen Lage angepasste Gründe für den tradierten Judenhass des vom Christentum geprägten Mittelalters.
Der Ausdruck „Antisemitismus“ ist eine Neuschöpfung deutscher Antisemiten im Umfeld des Journalisten Wilhelm Marr. Er zielte darauf, „die Judenfeindschaft mit der Zugehörigkeit der Juden zur semitischen Rasse und Völkerfamilie zu begründen und ihr das Gepräge einer auf letzte Ursachen zurückgehenden wissenschaftlichen Lehre zu geben“ (Edmond Jacob: Artikel Antisemitismus, in: Encyclopaedia Judaica, 1928, Sp. 957). Historisch richtete sich der neue Begriff jedoch nie gegen semitische Völker insgesamt, sondern immer nur gegen Juden.[6] Obwohl die semitische Sprachfamilie viele verschiedene Völker umfasst, blieb „Antisemitismus“ stets auf Juden als ethnisches Kollektiv begrenzt. Der Begriff ist also eine etymologische Fehlprägung und vom Ursprung her rassistisch und pseudowissenschaftlich.[7]
Als „Semiten“ wurde seit 1771 eine Sprachfamilie bezeichnet, um sie von der Sprachfamilie der „Arier“ zu unterscheiden. Nationalisten wie Christian Lassen und Ernest Renan machten beide Bezeichnungen zu ideologischen Sammelbegriffen für entgegengesetzte Nationalcharaktere und Kulturtypen. Indem man Juden als „Semiten“ bezeichnete, wurden sie als ethnische Abstammungsgemeinschaft mit minderwertigen Eigenschaften dargestellt. Ab 1855 wurde dieses Gegensatzpaar auch mit der Rassentheorie von Arthur de Gobineau verknüpft.[8] 1860 wies der Bibliograph Moritz Steinschneider Renans Thesen, das Judentum behindere den politischen Fortschritt der Menschheit durch seine Zerstreuung und sein religiöses Erwählungsbewusstsein, als „antisemitische Vorurteile“ zurück.[9] Bis 1865 war „Semitismus“ oder „Semitentum“ als Schlagwort lexikalisch etabliert.[8] Es lag daher nahe, das Antonym „Antisemitismus“ für die Ideologie und Ziele judenfeindlicher Organisationen zu verwenden.
Das Substantiv ist erstmals im Dezember 1879 in einem Zeitungsbericht über die Antisemitenliga belegt, die Marr im September 1879 gegründet hatte. Es bezeichnete deren politisches Programm, den „Semitismus“ zu bekämpfen. Der Ausdruck diente Antisemiten dazu, sich vom affektgeladenen Judenhass des Mittelalters abzugrenzen und ihren Zielen einen rationalen, aufgeklärten Anstrich zu geben.[9] Ab 1880 bezeichnete „Antisemitismus“ auch die Ziele der „Berliner Bewegung“ um Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke und der Unterzeichner der „Antisemitenpetition“.[10]
Da die jüdische Minderheit keine einheitliche Ideologie und Partei vertrat, die die Antisemiten hätten bekämpfen können, konstruierten sie einen völkisch-rassischen Gegensatz und machten das tradierte Schimpfwort „der Jude“ zum Inbegriff aller negativ erlebten und gedeuteten Zeiterscheinungen seit der Aufklärung. Er besitze und lenke die kritische Presse, infiltriere die Nation mit egoistischem Gewinnstreben, kalter Zweckrationalität, fremden Ideen und Tendenzen: Rationalismus, Materialismus, Internationalismus, Individualismus, Pluralismus, Kapitalismus (Manchesterliberalismus), Demokratie, Sozialismus und Kommunismus. Er sei schuld am Zerfall („Zersetzung“) traditioneller Gesellschaftsstrukturen, an Ausbeutung, Wirtschaftskrisen, Kapitalkonzentration und Inflation, Uneinigkeit und Schwäche der Nation. Als Zusammenfassung solcher anti-jüdischen und rassistischen Stereotype wurde der Begriff „Antisemitismus“ im Kaiserreich wie auch im Zarenreich Russland, Kaisertum Österreich und nachrevolutionären Frankreich rasch Allgemeingut. Er blieb etwa 75 Jahre lang die Eigenbezeichnung „prinzipieller“ Judenfeinde, die mit der Bekämpfung des „Semitismus“ die Isolierung, Vertreibung und schließlich die Vernichtung der Juden anstrebten.
Um gerade auch europäische, assimilierte Juden als eigene „Rasse“ von anderen „semitischen Völkern“ abzugrenzen, lehnte schon der Antisemit Eugen Dühring den Begriff „Antisemitismus“ ab. Um die Zusammenarbeit des NS-Regimes mit den Arabern machttaktisch zu gewährleisten, forderte das Reichspropagandaministerium im August 1935 die deutsche Presse auf, „das Wort: antisemitisch oder Antisemitismus zu vermeiden, weil die deutsche Politik sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlechthin richtet. Es soll stattdessen das Wort: antijüdisch gebraucht werden.“ 1943 verlangte Alfred Rosenberg von der deutschen Presse, die Bezeichnung Antisemitismus mit Rücksicht auf die arabische Welt zu unterlassen. Denn mit dem Begriff bekunde das feindliche Ausland, die Deutschen würden „Araber und Juden in einen Topf werfen“.[11]
Seit 1945 bezeichnet „Antisemitismus“ alle Aspekte judenfeindlicher Ideologie, die den Holocaust ermöglicht, vorbereitet, begleitet und gerechtfertigt haben. Antisemitismusforscher in Israel, Großbritannien und den USA verwenden das Wort als Oberbegriff für pauschale, auch nichtrassistische Judenfeindlichkeit mit „eliminatorischen“ Zügen. Reinhard Rürup und Thomas Nipperdey (1972) wollten es dagegen auf jene rassistische Judenfeindschaft seit 1880 begrenzen, in der der Begriff aufgekommen war. Diese sei eine „grundsätzlich neue judenfeindliche Bewegung“, so dass deren Begriff nicht auf ältere, nichtrassistische Judenfeindlichkeit übertragbar sei.[12] Auch Alex Bein,[13] Jacob Katz,[14] Helmut Berding[15] und Hermann Greive betonten bei aller Kontinuität den Unterschied des „modernen“ Antisemitismus zu früherem Judenhass und lehnten den Ausdruck daher als Oberbegriff für „Judenfeindlichkeit“ ab.[16] Laut Georg Christoph Berger Waldenegg legt das Weiterverwenden des Begriffs nahe, dass es „spezifisch jüdisch-semitische Eigenschaften gegeben habe und immer noch gebe“.[17]
Ernst Simmel dagegen urteilte: „Der Antisemitismus ist sich über Jahrhunderte hin im wesentlichen gleich geblieben, auch wenn sich seit der Aufklärung seine Ausdrucksformen verändert haben, so wie die ethischen Maßstäbe und die Sozialstrukturen jeder Epoche.“[18] Auch Shulamit Volkov zufolge ist es „mit der Neuheit des modernen Antisemitismus nicht weit her“.[19] Rita Botwinick sieht „Antisemitismus“ als „modernes Wort für eine althergebrachte Bösartigkeit“.[20] Eberhard Jäckel nennt den Begriff eine „sprachlich unzutreffende Bezeichnung für Judenhass“.[21] Léon Poliakov plädierte daher für „Antijudaismus“ als Oberbegriff für religiösen und rassistischen Judenhass,[22] Steven T. Katz verwendete „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ austauschbar.[23]
Umstritten blieb auch die Einordnung der nicht mehr religiösen, noch nicht explizit rassistischen Judenfeindschaft zwischen 1750 und 1880. Alphons Silbermann unterscheidet darin „klassischen“ und „modernen“,[24] Winfried Frey „frühen“ oder „vormodernen“ und „modernen“ Antisemitismus.[25] Wolfgang Altgeld spricht für die Zeit bis 1800 von „aufgeklärter Judenfeindschaft“, bis 1848 von „frühnationalistischem Antijudaismus“.[26] Paul L. Rose nennt Judenfeindschaft ab 1800 „Antisemitismus“.[27]
In der Umgangssprache wurde der Ausdruck „Antisemitismus“ seit 1945 gleichbedeutend mit „Judenhass“ oder „Judenfeindlichkeit“.[28] In der Forschung ist „Antisemitismus“ heute „Sammelbegriff für negative Stereotypen über Juden, für Ressentiments und Handlungen, die gegen einzelne Juden als Juden oder gegen das Judentum insgesamt sowie gegen Phänomene, weil sie jüdisch seien, gerichtet sind“.[29]
Hauptformen
Antijudaismus
Als „Antijudaismus“ wird Judenfeindschaft bezeichnet, die sich auf die jüdische Religion bezieht, durch spezifische christliche Theologie begründet wird und sich oft auf antijüdisch ausgelegte Stellen des Neuen Testaments beruft. Hauptbedingung dafür war die christliche Mission unter Nichtjuden, so dass eine Mehrheit von Heidenchristen das überwiegend judenchristliche Urchristentum ablöste. Die Substitutionstheologie behauptete seit dem 2. Jahrhundert, Gott habe die Erwählung der Juden zum Volk Gottes aufgrund ihrer Ablehnung der Messianität Jesu Christi gekündigt und das Judentum bleibend verflucht, so dass Juden das Heil nur durch die christliche Taufe, also den Übertritt in die nunmehr erwählte Kirche erlangen könnten.
Nachdem diese um 380 zur Staatsreligion des Römischen Reiches mit universalem Herrschaftsanspruch geworden war, wirkten sich die antijudaistischen Dogmen als sozial- und religionspolitische Diskriminierung jüdischer Minderheiten in Europa aus. Christen grenzten Juden seit dem 9. Jahrhundert aus den meisten Berufsbereichen aus und überließen ihnen nur noch verachtete Berufe wie den Trödelhandel, das Pfand- und Kreditwesen. Daraus entstanden Klischees wie das der arbeitsscheuen Wucherjuden, die zudem heimlich die Herrschaft über alle Christen oder sogar ihre Vernichtung anstrebten.
Aus der seit 180 bekannten Anklage des „Gottesmords“, die allen Juden eine Kollektivschuld am Tod Jesu Christi gab, entwickelten sich im Hochmittelalter Ritualmordlegenden und Zuschreibungen wie der angebliche „Hostienfrevel“. Die antijüdische Kirchenpolitik nahm Züge einer systematischen Verfolgung an: Juden wurden zwangsgetauft, ghettoisiert, kriminalisiert und dämonisiert. Judenpogrome fanden oft an hohen christlichen Feiertagen, besonders während der Kreuzzüge im 12. und 13. Jahrhundert, der Pestpandemie im 14. Jahrhundert und der Reconquista in Spanien im 15. Jahrhundert statt (~1450 limpieza de sangre, 1492 Alhambra-Edikt).
In der Reformation schien Martin Luther 1521 zunächst eine Abkehr vom christlichen Antijudaismus anzubahnen, forderte nach jüdischen Missionserfolgen jedoch alle Fürsten zur Zerstörung der Synagogen und jüdischen Wohnungen, Internierung, Zwangsarbeit oder Vertreibung der Juden auf (Von den Juden und ihren Lügen 1543; siehe Martin Luther und die Juden).
Die Aufklärung übernahm einige antijudaistische Stereotype, etwa die Gegenüberstellung einer vermeintlich national begrenzten und materialistischen jüdischen Hassreligion zu einer universalen und idealistischen christlichen Liebesreligion. Im 19. Jahrhundert gingen christliche und rassistische Judenfeindschaft ineinander über. So belebten christliche und antisemitische Judenfeinde gemeinsam die mittelalterlichen Ritualmordlegenden neu. Seit 1900 waren nationalistische Christen zugleich Antisemiten, so die evangelische Kirchenpartei „Deutsche Christen“ der NS-Zeit. Erst ab etwa 1960 wandten sich einige Kirchen infolge des Holocaust allmählich von der traditionellen Substitutionstheologie ab. Im Verhältnis von Kirchen und Judentum nach 1945 blieb die Judenmission Streitthema.
Neuzeitlicher Antisemitismus
Sozialer Antisemitismus bezieht sich auf den tatsächlichen oder eingebildeten sozialen Status von Juden in der Gesellschaft. Durch Berufsbeschränkungen wurden Juden in der Vergangenheit in die Berufe des Handels und Geldverleihens gedrängt. Im sozialen Antisemitismus kommt es zu einer Gleichsetzung von Börse, Finanzkapital und Geldgier mit dem Judentum.[30]
Beim politischen Antisemitismus gelten die als homogenes Kollektiv gedachten Juden als einflussreiche soziale Macht, die sich in politischer Absicht zu gemeinsamem Handeln zusammen geschlossen haben, um die Herrschaft in einem Land oder gleich die Weltherrschaft zu erreichen. Dies soll durch eine geheime Planung in Gestalt einer „jüdischen Weltverschwörung“ geschehen. In den Bereich des politischen Antisemitismus fallen die Protokolle der Weisen von Zion.[31]
Der kulturelle Antisemitismus steht in engem Zusammenhang mit dem sozialen und politischen Antisemitismus. Hier werden Juden auf kultureller Ebene für die angeblich verderblichen Entwicklungen verantwortlich gemacht. Irritierende Neuerungen in Architektur, Kunst, Literatur oder Musik sahen Antisemiten als Folge des jüdischen Einflusses, der als dekadent bewertet, mit der kulturellen Moderne identifiziert und mit ihr abgelehnt wurde. Als Beispiel für den kulturellen Antisemitismus gilt die von der NS-Propaganda so bezeichnete „entartete Kunst“.[32]
In Umkehrung des behaupteten „Gottesmords“ haben im Rahmen der Aufklärung atheistische und agnostische Autoren, wie Voltaire, der Baron von Holbach oder Friedrich Hegel, und mit ihnen hauptsächlich das revolutionäre Bürgertum der Französischen Revolution, die Juden der „Erfindung“ Gottes und des Monotheismus und der aus ihrer Sicht verwerflichen Hervorbringung des Juden Jesus Christus beschuldigt. Von Antiklerikalen wird so den Juden das Christentum angelastet.[33] So äußerte sich Voltaire gegenüber Juden: „Ihr übertrefft sämtliche Nationen mit euren unverschämten Märchen, eurem schlechten Benehmen und eurer Barbarei. Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal.“ Und an anderer Stelle: „Mich würde nicht im mindesten wundern, wenn diese Leute eines Tages gefährlich würden für das Menschengeschlecht.“[34]
Der nationalistische Antisemitismus sieht in den Juden eine ethnisch, kulturell oder sozial nicht zur jeweiligen Nation gehörende Minderheit, die als Fremdkörper wahrgenommen und der Illoyalität gegenüber der Nation beschuldigt wird. Im Gegensatz zum rassistisch motivierten Antisemitismus im engeren Sinne könnte hier durch Assimilation und Religionsübertritt die Diskriminierung überwunden und die Integration in die Gesellschaft erreicht werden. Der nationalistische Antisemitismus hebt nicht allein auf die angeblichen ethnischen Unterschiede ab, sondern betont behauptete kulturelle Gegensätze oder mangelnde Loyalität gegenüber der jeweiligen Nation. Durch eine solche Ausgrenzung nimmt diese Form der Judenfeindschaft auch fremdenfeindliche Züge an. Teilweise wird auch der nationalistische Antisemitismus unter das engere Begriffsverständnis des Antisemitismus gefasst.
Sekundärer Antisemitismus
„Sekundärer Antisemitismus“ bezeichnet eine Form der Judenfeindschaft „nach Auschwitz“, die aufgrund des inhaltlichen Kontextes mit der Shoah auch, unter einem psychologisch-moralischen Gesichtspunkt, als „Schuldabwehr“-Antisemitismus bezeichnet wird.[32] Nach dem Holocaust trat der Antisemitismus als Staatsdoktrin zurück und seit den 1960er Jahren dominierten andere Ausdrucksformen. In Deutschland unterstellt man hierbei in der öffentlichen Auseinandersetzung über die Massenvernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs, sie diene nur der Diffamierung der nationalen Identität, der Gewährung fortgesetzter Wiedergutmachungszahlungen an Israel und der politischen Legitimation von deren Politik im Nahen Osten.[35]
Antizionismus
Antizionismus bezeichnet die Ablehnung des Zionismus und des Staates Israel. Er entstand seit 1918 aus Konflikten zwischen den in Palästina ansässigen Arabern und den in mehreren Wellen (Alijot) zuwandernden europäischen Juden. Diese Konflikte eskalierten 1936 zum arabischen Aufstand, führten nach der Staatsgründung Israels 1948 zu sechs Kriegen arabischer Staaten gegen Israel und zu zahlreichen bewaffneten Konflikten, die bis heute andauern. Diese verstärkten den Antizionismus in und außerhalb der Nahostregion. Die Sowjetunion betrachtete Israel seit 1950 als Brückenkopf der Vereinigten Staaten in der Region. Diese Ansicht übernahmen seit 1967 Teile der politischen Linken; im Spektrum des Antiimperialismus ist sie bis heute gängig.[36]
Antizionismus kann judenfeindliche Motive enthalten oder verdecken. Islamische Organisationen wie die Muslimbrüder und die Hamas übernahmen Elemente des europäischen Antisemitismus. In Bezug auf die islamische und arabische Welt spricht man dann von einem islamischen oder islamisierten Antisemitismus. Auch bei Nichtmuslimen dient Antizionismus oft dazu, sich gegen Vorwürfe des Antisemitismus zu immunisieren, um Israel semantisch und inhaltlich auf analoge Weise wie „die Juden“ zu dämonisieren, zu delegitimieren und zu isolieren.
Ein großer Anteil aller Juden weltweit (2010: 43 Prozent, mit steigender Tendenz) lebt seit 1945 in Israel,[37] das sich als Zufluchtsort aller Juden versteht. Antizionismus, der sich gegen das Existenzrecht Israels richtet, wird darum oft als getarnter Antisemitismus beurteilt.[38] Diese Israelfeindschaft verbindet Antiimperialismus, Rechtsextremismus und islamischen Extremismus und wirkt als potentielle Bedrohung aller Juden.[39]
Aktuelle Arbeitsdefinitionen
Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) verzeichnete infolge der Terroranschläge am 11. September 2001 eine Zunahme antisemitischer Tendenzen.[40] Um die strafrechtliche Behandlung solcher Tendenzen in den EU-Staaten zu erleichtern und zu vereinheitlichen, veröffentlichte die EUMC 2005 eine Arbeitsdefinition:
Antisemitismus ist ein gegen jüdische oder nichtjüdische Individuen, ihr Eigentum, ihre Institutionen oder den Staat Israel gerichteter „Judenhass“. Er „klagt Juden häufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit an und wird oft benutzt, um Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich zu machen, ‚wenn etwas falsch läuft‘.“ Er drücke sich in Worten, Texten, Bildern und Taten aus und verwende dazu „unheilvolle Stereotypen und negative Charakterzüge“, etwa:
- Aufrufe zum Töten oder Schädigen von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder extremistischen religiösen Sicht
- verlogene, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Behauptungen über Juden oder die kollektive Macht von Juden, etwa eines Weltjudentums oder jüdischer Kontrolle von Medien, Regierungen usw.,
- Juden kollektiv für reale oder vermeintliche Vergehen einzelner oder mehrerer Juden oder Nichtjuden zu beschuldigen,
- Holocaustleugnung,
- Juden als Kollektiv oder Israel zu beschuldigen, sie hätten den Holocaust erfunden oder dramatisiert,
- jüdische Staatsbürger zu beschuldigen, sie seien loyaler gegenüber Israel oder vermeintlichen jüdischen Prioritäten weltweit als gegenüber ihren eigenen Staaten,
- das Selbstbestimmungsrecht von Juden abzulehnen, etwa zu behaupten, Israel sei ein rassistisches Projekt,
- doppelte Standards anzuwenden, also von Israel Verhalten zu fordern, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet wird,
- klassisch-antisemitische Symbole und Bilder wie den Gottesmord-Vorwurf oder die Ritualmordlegende auf Israel oder Israelis anzuwenden,
- Israels aktuelle Politik mit der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus zu vergleichen,
- eine Kollektivverantwortung der Juden für Israels Politik zu behaupten.
Kritik an Israel, die ähnlich auch gegenüber anderen Ländern geäußert wird, könne jedoch nicht als antisemitisch eingestuft werden.[41]
Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beschloss nach Beratungen ihrer 31 Mitgliedsstaaten am 15. Mai 2016, die EUMC-Definition zu übernehmen:[42]
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Auch die Arbeitsdefinition „Antisemitismus“ des European Forum on Antisemitism (EFA) beruht auf der EUMC-Definition von 2005.
Der Ministerrat Österreichs übernahm die IHRA-Arbeitsdefinition am 21. April 2017.[43] Die deutsche Bundesregierung stimmte dieser Definition am 20. September 2017 durch einen Kabinettbeschluss ebenfalls zu.[44]
Die IHRC führt folgende aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre auf, die unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen können, ohne darauf beschränkt zu sein.
„Beispiele:
- Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
- Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Juden.
- Das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden.
- Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z. B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
- Der Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
- Der Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
- Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
- Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
- Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z. B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
- Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
- Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.“
– International Holocaust Remembrance Alliance, 26. Mai 2016.[45]
Der Politikwissenschaftler und Soziologe Armin Pfahl-Traughber bemängelt an der Arbeitsdefinition fehlende Klarheit, Trennschärfe und Vollständigkeit und plädiert für deren grundlegende Überarbeitung. Es werde nicht deutlich, worin genau die „bestimmte Wahrnehmung“ bestehe. Antisemitismus sei keine Kritik, sondern Feindschaft „gegen Juden als Juden“. Zwar sei an der Definition begrüßenswert, dass artikuliert wird, dass sich die Judenfeindschaft der Gegenwart häufig genug über den Umweg der Israelfeindschaft ausdrücke, diese werde jedoch überbetont, die anderen Ideologievarianten des Antisemitismus kämen nur am Rande vor.[46] Auch der israelische Historiker Moshe Zimmermann kritisiert die „Schwammigkeit“ der IHRA-Definition. Sie erlaube es, jede Art von Kritik an Israel als antisemitisch zu bezeichnen. Das führe zu einer inflationären Verwendung des Begriffs und dazu, dass „dort, wo Antisemitismus wirklich zu finden ist, […] er möglicherweise nicht erkannt“ werde.[47]
Weiterführende Informationen
Literatur
Da dieser Artikel einen Überblick über die verschiedenen Formen von Judenfeindlichkeit gibt, beschränkt sich die Literatur hier auf allgemeine Darstellungen zum Gesamtphänomen. Literatur zu speziellen Begriffen und Epochen ist den verlinkten Spezialartikeln vorbehalten.
- Shmuel Almog (Hrsg.): Antisemitism through the Ages. Pergamon, Oxford 1988, ISBN 0-08-034792-4.
- Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, (bisher) 7 Bände, de Gruyter Saur, Berlin / Boston, MA, 2009 ff, ISBN 978-3-598-24071-3 (Band 1).
- Christina von Braun, Ludger Heid: Der ewige Judenhass (= Studien zur Geistesgeschichte, Band 12). Philo Verlagsgesellschaft, Berlin/Wien 2006, ISBN 3-8257-0149-2.
- Günther Bernd Ginzel (Hrsg.): Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute. WP, Bielefeld 1991, ISBN 3-8046-8772-5.
- Walter Laqueur: Gesichter des Antisemitismus. Von den Anfängen bis heute. Propyläen, Berlin 2008, ISBN 978-3-549-07336-0.
- Lars Rensmann, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Feindbild Judentum, Antisemitismus in Europa. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2008, ISBN 978-3-86650-642-8.
- Robert Wistrich: A Lethal Obsession: Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad. Random House, New York 2010, ISBN 1-4000-6097-4.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen