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Samstag, 9. Dezember 2017

LOVEPARADE-DESASTER 2010

Diese Loveparade hätte niemals genehmigt werden dürfen



DIE WELT
9. Dezember 2017
© dpa Diese Loveparade hätte niemals genehmigt werden dürfen
Das Gericht wirft den Angeklagten im Loveparade-Prozess "pflichtwidriges Verhalten" und "schwerwiegende Planungsfehler" vor. Der Auftakt ist symptomatisch für die Aufarbeitung der Katastrophe von 2010.
Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff zählt die Namen von 21 Menschen auf, die bei der Loveparade am 24. Juli 2010 gestorben sind. Der Ankläger nennt auch Personen und ihre Verletzungen, stellvertretend für 652 Personen, die knapp überlebt haben. Es ist das dramatische Ende seiner Anklageschrift. Sechs Stunden dauert der erste Verhandlungstag im Loveparade-Verfahren schon. Es hat am Freitag viele Unterbrechungen gegeben und zeitweise dachten Anwälte, dass es nicht mehr zur Verlesung der Anklageschrift kommen würde.
Siebeneinhalb Jahre liegt die Katastrophe zurück, es hat bis zu diesem Prozess Verzögerungen und dramatische Rückschläge gegeben. Der Verlauf des Prozessauftaktes ist symptomatisch für die gesamte Aufarbeitung der Katastrophe.
Dreieinhalb Jahre brauchte die Staatsanwaltschaft für die Ermittlungen, bis sie 2014 eine Anklageschrift vorlegen konnte. Noch einmal zwei Jahre dauerte die Prüfung im Zwischenverfahren des Landgerichts Duisburg, ehe das Gericht 2016 entschied, die Anklage nicht zuzulassen, weil sie eklatante Schwächen monierte. Nach einer Beschwerde von Staatsanwaltschaft und Nebenklägern vor der nächsthöheren Instanz entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf im April dieses Jahres, die Anklage doch zuzulassen und ein Hauptverfahren vor dem Landgericht zu eröffnen.
Viele Plätze im Saal bleiben leer
Am Freitagmorgen ist es so weit. Schon früh am Morgen stehen viele Polizisten am "Congresscentrum" Ost in Düsseldorf. Sie sollen einen großen Andrang koordinieren. Das Landgericht Duisburg hat auf dem Messegelände in der Nachbarstadt eine "Außenstelle" eingerichtet, weil es dort mehr Platz gibt als im eigenen Gerichtsgebäude. Ein großes Schild mit der Aufschrift "Landgericht Duisburg – Außenstelle CCD Ost" weist den Weg zum Gerichtsaal.
500 Stühle, davon mehr als 300 für Zuschauer, wurden in der ersten Etage aufgestellt. Doch viele Plätze bleiben leer. Es sind, abgesehen von mehreren Dutzend Journalisten, gerade einmal 50 Privatpersonen am Freitagmorgen zum Auftakt gekommen. Auch von den 65 Nebenklägern sind einige nicht erschienen, sondern lassen sich von Anwälten vertreten.
Die Nebenkläger sitzen links im Saal, in der Mitte die Zuschauerstühle, rechts ist Platz für die zehn Angeklagten mit ihren Verteidigern. Sechs Bedienstete der Stadt Duisburg und vier Mitarbeiter des Loveparade-Veranstalters Lopavent müssen sich wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten, weil sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft bei der Planung, Genehmigung und Überwachung Fehler gemacht haben.
Einer der größten Prozesse der Nachkriegszeit
Diejenigen, die die Loveparade geplant und genehmigt haben, bekommen nun für die Öffentlichkeit Gesichter: Der frühere Dezernent Jürgen D. (70), die leitenden Mitarbeiter des städtischen Amtes für Baurecht und Bauberatung, Anja G. (51) und Reimund D. (58), die Sachbearbeiter Ralf J. (55), Peter G. (55) und Ulrich B. (63) und die damaligen vier Lopavent-Mitarbeiter Johann S. (40), Günther S. (65), Lutz W. (58), Kersten S. (46) sitzen auf der Anklageseite.
Auf drei großen Videoleinwänden im Saal werden diejenigen eingeblendet, die das Wort ergreifen. Meist ist an diesem Tag der Vorsitzende Richter der 6. Großen Strafkammer, Mario Plein, im Bild. Der 46-Jährige leitet einen der größten und schwierigsten Prozesse in der Nachkriegszeit. Schon kurz nach Verhandlungsbeginn muss sich Plein mit den Tücken des Verfahrensrechts herumschlagen. Kaum hat er die Anwesenheit von Angeklagten und Nebenklägern geklärt, kommt seine Planung durcheinander.
Ein Verteidiger merkt an, dass noch nicht danach gefragt worden sei, ob sich Zeugen im Saal befänden. "Guter Einwand", entgegnet Plein und fragt, ob Personen anwesend seien, "die als Zeugen in Betracht kommen oder als Zeugen bereits vernommen wurden". Als sich zunächst niemand meldet, kommt von den Verteidigern der Hinweis, dass sich der Richter nach einer bestimmten Person im Saal erkundigen solle.
Die Angehörigen haben viele Fragen
Es geht um eine hochgewachsene Frau mit langen blonden Haaren. Sie sitzt bei den Journalisten und sagt, sie sei von der "Presse". Ein Verteidiger merkt an, dass sie später als Zeugin geladen werde, da sie mit seinem Mandanten, einem früheren Lopavent-Mitarbeiter, als Kollegin eng zusammengearbeitet habe. Die Anwesenheit dieser Frau im Gerichtssaal ist heikel, denn sie hat nicht nur für den damaligen Loveparade-Veranstalter gearbeitet, sondern ist aktuell Kommunikationschefin einer Fitnesskette. Der Chef dieses Unternehmens heißt Rainer Schaller, der auch 2010 Chef der Lopavent GmbH war.
Unter den Hinterbliebenen und Überlebenden des Loveparade-Desasters gilt Schaller als ein Verantwortlicher für die Katastrophe. Sie können nicht verstehen, dass weder Schaller noch der damalige Oberbürgermeister Adolf Sauerland angeklagt wurden, obwohl beide die Realisierung der Massenveranstaltung vorangetrieben haben. Schaller wird voraussichtlich als Zeuge in dem Verfahren aussagen müssen. Dass nun ausgerechnete eine Mitarbeiterin im Gerichtssaal sitzt, sorgt unter Anwälten der Nebenkläger und Verteidiger für Unverständnis.
Die Frau hat nach Darstellung eines Gerichtssprechers eine Presse-Akkreditierung beantragt und sich dabei als "freie Journalistin" ausgegeben. Ihre Anwesenheit löst im Saal eine generelle Debatte zwischen Anwälten und Strafkammer darüber aus, wie man mit möglichen Zeugen im Prozesssaal umgehen soll, da ja noch keine Zeugen förmlich geladen sind. Als das Gericht kurz unterbricht, geht Schallers Mitarbeiterin zum Richtertisch. Sie wechselt einige Worte mit dem Vorsitzenden Richter Plein und verlässt dann den Gerichtssaal.
Loveparade war "nicht durchführbar"
Man spürt, dass Plein eines unbedingt erreichen will: die Verlesung der Anklageschrift am ersten Tag. Irgendwann sagt er, dass ein großes öffentliches Informationsinteresse bestehe. Die Anwälte der Angeklagten wollen zuvor jedoch einiges geklärt haben. Sie stellen Befangenheitsanträge gegen zwei Schöffen, ein Verteidiger will gar eine 74-seitige Besetzungsrüge vortragen, ein anderer will erreichen, dass die Anklageschrift nicht verlesen wird.
Sie begründen ihre Anträge, doch ein Nebenkläger-Anwalt fühlt sich durch die anhaltenden Einwände provoziert und wirft der Gegenseite vor, sich "rechtsmissbräulich" zu verhalten. Das sehen in der Riege der Nebenkläger einige anders und nennen in einer Verhandlungspause das Verhalten des Kollegen "kontraproduktiv". Auch der Vorsitzende Richter Plein mahnt, mit dem Vorwurf des Rechtsmissbrauchs "zurückhaltend" zu sein.
Die Kammer lässt den Antrag zur Nichtverlesung der Anklageschrift noch vortragen und lehnt ihn nach kurzer Beratung ab. Es ist kurz vor 16 Uhr, als Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff endlich die Anklageschrift verlesen kann. In ihr sind mehrere Hundert Aktenordner und mehrere Terrabyte an elektronischen Daten verdichtet.
Mühlhoff macht deutlich, dass die Loveparade 2010 niemals hätte genehmigt werden dürfen. Die Mitarbeiter hätten "schwerwiegende Planungsfehler" begangen, und die Vorgesetzten hätten deren Arbeit nicht ausreichend kontrolliert. "Sie überwachten die Mitarbeiter nicht genügend, obwohl sie genügend Anlass zum Zweifeln hatten", sagt Mühlhoff über die leitenden Bediensteten.
"Nicht durchführbar und nicht genehmigungsfähig"
Ihr Kenntnisstand habe dem der Sachbearbeiter entsprochen. Sie hätten erkennen müssen, dass die Veranstaltung "nicht durchführbar und nicht genehmigungsfähig" sei. Sie hätten mit einer Anweisung darauf hinwirken müssen, dass die pflichtwidrige Genehmigung nicht erteilt werde.
Angesichts einer erwarteten Besucherzahl von 235.000 Ravern sei der Zugangs- und Abgangsbereich so unterdimensioniert gewesen, "dass es zwangsläufig zu lebensgefährlichen Verengungen im Besucherstrom kommen musste", sagte Mühlhoff. Am Tag der Veranstaltung seien "genehmigungswidrige Hindernisse" wie eine Zaunanlage am Zu- und Abgangsbereich des Veranstaltungsgeländes nicht entfernt worden. Dem ebenfalls angeklagten früheren Duisburger Baudezernenten warf der Anklagevertreter vor, dass er die Genehmigungsverfahren seiner Untergebenen persönlich hätte prüfen müssen.
Am späten Nachmittag endet der erste Prozesstag. Nächste Woche soll es weitergehen. Insgesamt sind 111 Verhandlungstage bis Ende 2018 angesetzt. Im Juli 2020 droht die Verjährung der vorgeworfenen Taten, wenn kein Urteil vorliegt. Es herrscht hoher Erwartungsdruck.
Der erste Tag hat immerhin Wichtiges bewirkt: Zwei Frauen, die das Loveparade-Desaster überlebt haben, verlassen den Gerichtssaal. Sie sind erleichtert, dass endlich die Anklageschrift verlesen wurde. Eine von ihnen sagt: "Sieben Jahre lang habe ich mir selbst die Schuld gegeben. Jetzt weiß ich, wem ich die Schuld geben kann."

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