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Dienstag, 11. April 2017

SELEKTIVE REALITÄTSWAHRNEHMUNG UND GERECHTIGKEITSEMPFINDUNG

Kaczynski führt politische Gegner im Gerichtssaal vor

Von Gerhard Gnauck | Stand: 11.04.2017


Gedenken zum 7. Jahrestag des Absturzes von Smolensk (v.r.): Jaroslaw Kaczynski, Marta Kaczynska, Tochter von Lech Kaczynski, ihre Töchter, und Präsident Andrzej Duda
Quelle: dpa
Sieben Jahre nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk wurde nun Ex-Premier Tusk angezeigt, Ex-Außenminister Sikorski muss als Zeuge aussagen. Dabei geht es um viel mehr als den Absturz.
Warschau, Bezirksgericht, Saal 200: Sieben Jahre nach dem Flugzeugabsturz im westrussischen Smolensk ziehen die Ermittlungen zu der Katastrophe immer weitere Kreise. Am Dienstag war Ex-Außenminister Radoslaw Sikorski geladen. Der heutige Harvard-Dozent musste als Zeuge in einem Prozess aussagen, in dem hohe Beamte und Diplomaten – seine damaligen Untergebenen – wegen mutmaßlicher Pflichtverletzung auf der Anklagebank sitzen.
Wieder einmal geht es um den Absturz des polnischen Regierungsflugzeugs am 10. April 2010. Damals waren Präsident Lech Kaczynski und 95 weitere Personen bei einem gescheiterten Landeanflug ums Leben gekommen. Sie waren auf dem Weg zu einer wichtigen Gedenkfeier für die polnischen Opfer des sowjetischen Katyn-Massakers von 1940.
Zwar glaubt, Umfragen zufolge, nur eine Minderheit der Polen an einen Anschlag als Ursache für den Absturz. Doch für einen erheblichen Teil der Bevölkerung, keineswegs nur Kaczynski-Anhänger, ist Smolensk zu einem Synonym für Staatsversagen geworden.

Innenpolitischer Grabenkrieg als Element der Katastrophe

So stellen sich viele die Frage, warum Polen nach dem Unglück die Ermittlungshoheit der russischen Behörden anerkannt hat und warum sowohl das Wrack als auch der Flugschreiber immer noch in Russland sind. Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass das Flugzeug mit dem Staatsoberhaupt in dichtem Nebel auf einem heruntergekommenen Waldflugplatz mit zwei völlig überforderten Fluglotsen landen sollte?
Dazu gehörte im Vorfeld auch das unwürdige Spiel im Dreieck zwischen dem damaligen Premierminister Donald Tusk, den Russland zu der Katyn-Gedenkfeier eingeladen hatte, Präsident Kaczynski, der ebenfalls hinfahren wollte, und dem russischen Botschafter in Warschau, Wladimir Grinin, als Vertreter der Gastgeber.
Am Ende wurden zwei getrennte Besuche angesetzt, erst der von Tusk, dann der von Kaczynski. So gilt der innenpolitische Grabenkrieg in Polen, damals befeuert von einem nahenden Wahlkampf, heute für viele als ein Beispiel dafür, wohin blinde politische Gegnerschaft führen kann.

Regierung will alles noch einmal aufrollen

Sikorski hat am Dienstag im Gerichtssaal zu der Trennung der zwei Besuche nicht viel Neues gesagt. Stattdessen verwies er, durchaus glaubhaft, auf die Annäherung zwischen Warschau und Moskau als Teil der damaligen internationalen „Bemühungen um eine Europäisierung Russlands“.
Die Frage der Anklage, ob er diese Europäisierung heute als „gelungen“ ansehe, ließ der Vorsitzende Richter nicht zu, da sie an der Sache vorbeigehe. Immerhin sagte Sikorski, er habe Kaczynski von dessen Sonderbesuch (der zur Tragödie führen sollte) abgeraten.
Was auch immer in diesem von Angehörigen der Absturzopfer angestrengten Prozess herauskommt: Polens nationalkonservative Regierung ist der Meinung, der Absturz müsse noch einmal gründlichst untersucht werden.

„Russen lockten Flugzeug in die Katastrophe“

Alle Opfer sollen bis Ende dieses Jahres exhumiert werden. Der innenpolitische Streit über Smolensk droht immer schärfer zu werden. Nicht zuletzt dadurch, dass Lechs Zwillingsbruder Jaroslaw Chef der Regierungspartei PiS ist.

People participate in the March with Portraits to commemorate the 7th anniversary of the presidential plane crash near Smolensk, in Warsaw, Poland, 10 April 2017. Poland's President Lech Kaczynski, his wife Maria Kaczynska and 94 others died on 10 April 2010 when Polish presidential plane crashed in Smolensk, Russia. PAP/Jakub Kaminski POLAND OUT Foto: Jakub Kaminski/PAP/dpa
Marsch durch Warschau zum Gedenken an die Toten der Flugzeugkatastrophe vom 10. April 2010
Quelle: dpa
So fanden zum Jahrestag des Absturzes umfangreiche Gedenkfeiern statt. Ein Dokumentarfilm wurde vorgeführt, der belegen soll, dass die polnische Tupolew beim Landeanflug im russischen Smolensk bereits in der Luft Teile verlor, bis kurz vor der Landebahn eine Explosion an Bord sie zum Absturz brachte. Zahlreiche Luftfahrtexperten, die zum Teil unter der früheren Regierung tätig waren, sowie der Sprecher des Kreml bezeichneten diese Version als unglaubwürdig.
Neben dieser Darstellung äußern polnische Regierungsvertreter neuerdings, sozusagen parallel, einen zweiten Verdacht: Die russischen Fluglotsen sollen das Flugzeug bei der vorherrschenden geringen Sicht vorsätzlich in die Katastrophe „gelockt“ haben.

Anzeige gegen den EU-Ratspräsidenten

Das Motiv für die russische Seite soll demnach gewesen sein, Lech Kaczynski auszuschalten. Der Präsident war seinerzeit in Europa der lautstärkste Warner und Kritiker des russischen Präsidenten (damals zwischenzeitlich Ministerpräsidenten) Wladimir Putin.
Polens amtierender Verteidigungsminister Antoni Macierewicz hat jetzt wegen Smolensk auch Anzeige gegen Donald Tusk erstattet, den heutigen EU-Ratspräsidenten. Der Vorwurf: „diplomatischer Verrat“, entsprechend dem in anderen Staaten existierenden Straftatbestand Landesverrat.
In Polen stehen darauf bis zu zehn Jahre Haft. Die Begründung lautet, die Regierung Tusk habe bei der Aufklärung des Absturzes schwere Fehler begangen und sei gegenüber Moskau nachgiebig gewesen.

Warschau gewinnt einen wichtigen Verbündeten

Tusk habe also, heißt es, „seine Pflichten nicht erfüllt“. Er habe die Ermittlungen zur Unglücksursache leichtfertig in die Hände Russlands gegeben. Auch habe Tusk zu wenig unternommen, um die Rückgabe des Flugzeugwracks – eines wichtigen Beweisstücks – an Polen durchzusetzen.
Im März konnte Warschau einen Verbündeten gewinnen, der helfen soll, das Wrack zurückzuholen: den Anwalt Luis Moreno Ocampo. Der Argentinier war bis 2012 Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Moreno Ocampo will, wie er der Zeitung „Dziennik“ sagte, „ausschließlich als Experte und Berater im Kontext des internationalen Rechts“ seinen Beitrag zur Smolensk-Aufklärung leisten. Er wolle eine „unabhängige Stellungnahme“ vorlegen.
Der EU-Ratsvorsitzende Tusk wird bald einen Vorgeschmack davon bekommen, wie es ist, in seinem Heimatland im Gerichtssaal zu erscheinen. Ein Verfahren zu einem verwandten Thema läuft nämlich bereits.

Kaczynskis Erzfeind muss vor Gericht erscheinen

Gegenstand ist ein Abkommen von 2013 über die Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten Polens und Russlands, bei dem es auch um die Smolensk-Ermittlungen geht. Hierzu soll Tusk als Zeuge gehört werden. Er hat zugesagt, sich am 19. April in Warschau verhören zu lassen. Nichts dürfte Kaczynski so freuen wie der Anblick seines Erzfeinds in einem Gerichtssaal.
Die polnische Justiz, die zunehmend unter der Kontrolle der Regierung steht, versucht derzeit einiges, um Tusk in Bedrängnis zu bringen. Auch ein Untersuchungsausschuss im Parlament ist aktiv: Er behandelt eine Affäre um die – wie inzwischen bekannt ist, betrügerischen – Firmen Amber Gold und OLT Express.
Der Sohn des damaligen Regierungschefs, Michal Tusk, hatte kurzzeitig für eine dieser Firmen in untergeordneter Funktion gearbeitet. Der Ausschuss will Tusk Senior und Tusk Junior vernehmen. Wieder ein Anlass, den EU-Ratspräsidenten, der kürzlich gegen den Willen Warschaus in seinem Amt bestätigt wurde, ins Kreuzverhör zu nehmen – und als potenziellen künftigen polnischen Oppositionsführer zu diskreditieren.
 https://www.welt.de/politik/ausland/article163626019/Kaczynski-fuehrt-politische-Gegner-im-Gerichtssaal-vor.html

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