Der
Sturzflut zuvorkommen: Warnungen vor der Flutkatastrophe wurden unterschätzt
Patrick Eickemeier 13. August 2021 Business
Insider Deutschland /Tagesspiegel
Daten
der Europäischen Flutwarnbehörde zeigten fast zwei Tage vor der Katastrophe die
höchste Warnstufe an
Vier
Wochen nach den extremen Überflutungen in Nordrhein-Westfalen und
Rheinland-Pfalz haben Expertinnen und Experten nun die Daten der Europäischen
Flutwarnbehörde (Efas) ausgewertet. Man hätte schon viel früher Maßnahmen
ergreifen können und so viele Menschenleben retten können, so die Einschätzung
der Fachleute.
Bei
einer Pressekonferenz des Science Media Center am 13. August stellten eine
Expertin und zwei Experten ihre Auswertungen der Warnkarten von Efas vor. Diese
zeigen: Schon einige Tage vor den Überflutungen warnte Efas vor den Unwettern
und deren Folgen. Annegret Thielken, die Leiterin der Arbeitsgruppe Geografie
und Naturrisikenforschung an der Universität Potsdam, sagte: „Eigentlich hatten
wir sieben Stunden Zeit. Mit den Niederschlagsvorhersagen sogar mehrere Tage.“
Laut der Expertin hätte man schon viel früher evakuieren müssen. Studien würden
zeigen, dass 90 Minuten ausreichen, um die Bevölkerung bei einem solchen
Katastrophenfall zu verständigen – dann hätten „viele Todesopfer gerettet
werden können.“
Beinahe
zwei Tage vor der Katastrophe wurden Behörden gewarnt
Seit
der Flutkatastrophe von 2002 waren verschiedene Warnsysteme entwickelt worden,
um rechtzeitig vor Überflutungen zu warnen. Die Karten der Efas zeigten bereits
am Mittag des 13. Juli – also fast zwei Tage vor der Flut – die höchste
Warnstufe Violett an, wie man auf dem folgenden Foto sehen kann:
Die
Einschätzung von Bernhard Mühr, Geschäftsführer der EWB Wetterberatung: „Die
Dringlichkeit war den handelnden Akteuren nicht ganz klar.“ Und auch bei der
Zuständigkeit sehen die Expertin und Experten ein Problem. Der Deutsche
Wetterdienst (DWD) ist nämlich für Wetterkatastrophen und -warnungen zuständig.
Wenn es um Überflutungen geht, haben aber die Hochwasserzentralen der
Bundesländer den Hut auf. Und Evakuierungen wiederum können nur Landkreise
anordnen.
Mehr
als 180 Menschen sind bei der Flutkatastrophe gestorben, mehr als 760 wurden
verletzt. Forscherin Thieken bezeichnete die Flutkatastrophe als „eine
schallende Ohrfeige für das Risikomanagement in Deutschland“. Jörg Dietrich,
Leiter der Arbeitsgemeinschaft am Institut für Hydrologie und Wasserwirtschaft
der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, stimmte zu: „Das war eine
Katastrophe mit Ansage. Sie war aus den Daten ersichtlich – und eine klare
Handlungsanweisung hat gefehlt.“
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Hat
bei der Flutkatastrophe in Deutschland das EU-Frühwarnsystem versagt? Den
betroffenen Menschen fehlte es teils an lebensrettenden Informationen.
Sturzfluten
sind kleinräumig aber gefährlich. Die plötzlich auftretenden
Hochwasserereignisse haben extreme Wucht, die Autos mitreißen und Gebäude
zerstören kann. Die Bilder aus den im Juli überschwemmten Gebieten in
Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zeugen davon. Für Menschen bedeuten die
Wassermassen Lebensgefahr. Infolge der Hochwasser sind mehr als 180 Menschen
gestorben.
Rechtzeitige
Hochwasserwarnungen können Leben retten und auch die verursachten Schäden
begrenzen. Doch sie müssen bis zu den Gefährdeten gelangen und das hat nach
Expertenansicht nicht funktioniert, wie Informationen des Europäischen
Flutwarnsystems EFAS zeigen sollen, die jetzt öffentlich zugänglich gemacht
wurden.
„Es
war eine schallende Ohrfeige für das Risikomanagement“, sagt Annegret Thieken,
die am Institut für Umweltwissenschaften und Geographie der Universität Potsdam
die Arbeitsgruppe „Geographie und Naturrisikenforschung“ leitet. Die extremen
Ereignisse seien unterschätzt worden.
Extremereignis
übertraf Warnungen
Dabei
hatte sich die Katastrophe angekündigt. Es begann mit der Wettervorhersage für
den 13. und 14. Juli, die starke Niederschläge ankündigte. Bei Starkregen fällt
so schnell so viel Wasser, dass der Boden es nicht aufnehmen kann und es
größtenteils oberflächlich abfließt. Große Abflusswellen können dann die Pegel
vor allem kleiner Flüsse schnell ansteigen lassen.
EFAS
hat bereits am Samstag den 10. Juli, vier Tage vor der Katastrophe in der Nacht
auf den 15. Juli davor gewarnt, dass es zu Sturzfluten kommen könne. Das
Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz setzte am 14. Juli die
Hochwasser-Warnstufe für die Ahrregion mittags auf Rot und am späten Nachmittag
auf die höchste Warnstufe „Violett“. Die für den Katastrophenschutz zuständigen
Gemeinden reagierten jedoch meist zu spät.
„Viele
Menschen sind gestorben, obwohl man sie rechtzeitig in Sicherheit hätte bringen
können“, sagte Hannah Cloke von der britischen Universität Reading. Man müsse
aufklären, wie es dazu kommen konnte und entsprechende Lehren daraus ziehen,
forderte sie in einer Mitteilung der Universität bereits am 20. Juli. Die
Vorhersagen und Warnungen seien akkurat gewesen und in einigen Gebieten seien
richtige Maßnahmen ergriffen worden. Aber insgesamt habe das System versagt.
Cloke gründet ihre Vorwürfe auf die frühzeitig ausgegebene EFAS-Warnung.
Bisher
ließen sich diese kritischen Aussagen nicht überprüfen. Die Frühwarnkarten der
EFAS werden von dem EU-geförderten Copernicus Emergency Management Service an
141 Institutionen geschickt, darunter auch das Landesamt für Umwelt in
Rheinland-Pfalz. Sie werden aber erst nach vier Wochen öffentlich zugänglich
gemacht. War die EFAS-Warnung konkret genug, um vor Ort Schutzmaßnahmen zu
ergreifen?
„Das
Potenzial für extreme Niederschlagsmengen war fünf Tage zuvor zu erkennen“,
sagt Bernhard Mühr, externer wissenschaftlicher Mitarbeiter des Center for
Disaster Management and Risk Reduction Technology am Karlsruher Institut für
Technologie. Es komme selten vor, dass die Modellerwartungen solch hoher
Niederschlagsmengen ein so großes, mehrere Tausend Quadratkilometer umfassendes
Gebiet beträfen. „Ich bin wirklich erschrocken“, sagt Mühr. „Das
Extremereignis, das in den Warnkarten abgebildet wurde, entsprach aber bei
Weitem noch nicht dem, was wir bekommen haben“, kritisiert Thieken.
Viele
Regionen wurden violett
Das
EFSA-System bildet anhand von Modellsimulationen zu erwartende Abflüsse
europaweit ab, bis zu zehn Tage im Voraus. Es dient weniger für lokal relevante
Aussagen, als vielmehr als Frühwarnsystem. Die in Deutschland für die
Hochwasservorhersage verantwortlichen Bundesländer haben eigene Modelle, die
genauere, aber kurzzeitigere Erwartungen liefern, einen Tag im Voraus.
„Anhand
der EFAS-Karte vom 10.7. konnte man nicht sagen, dass eine katastrophale Flut
in kleinen Gebieten erwartbar war“, sagt Jörg Dietrich vom Institut für
Hydrologie und Wasserwirtschaft der Universität Hannover. Lediglich für weiter
südlich gelegene Abschnitte des Rheins wurde darin eine erhöhte
Hochwasserwahrscheinlichkeit über 50 Prozent ausgegeben.
Anhand
der Niederschlagsvorhersage und Daten zur Bodenfeuchte liefert EFAS aber auch
Projektionen von Sturzfluten. „Aus diesen beiden Faktoren kann man schon sehr
viel ableiten“, sagt Dietrich. Für die Ahr und weitere Flüsse in dieser Region
wurde auf dieser Grundlage am 10. Juli bereits die zweithöchste Warnstufe
ausgegeben. Am Mittag des 12. Juli wurde die Warnstufe hochgesetzt: violett.
„EFAS
rechnet aber nichts ortsgenau“, sagt Dietrich. Allein anhand dieser
Informationen könnten die Behörden keine Evakuierungen anordnen. Auf der Karte
waren auch viele weitere Regionen violett eingefärbt. „Aber es sind sehr klare
Warnzeichen“, so der Hydrologe. Aus seiner Sicht lieferte das System zwei Tage
vor dem Ereignis den klaren Hinweis, wachsam zu sein und alle folgenden
Informationen genau zu beobachten.
Schon
die Tatsache, dass der Kartendienst von EFAS für den Katastrophenschutz am 13.
Juli freigeschaltet wurde, war eine weitere Warnung. Seit 2013 erfolgte das
erst zehnmal. „EFAS ist nicht anfällig für Fehlwarnungen“, sagt Dietrich.
Die
letzte Meile ist besonders anfällig
Katastrophenschutzbehörden
sind für Evakuierungen zuständig. Die Informationen zur Hochwassergefahr müssen
also vom Frühwarnsystem EFAS an die Bundesländer und von ihnen an die
Gemeinden, Bürgermeister und Feuerwehren weitergeleitet werden. „In den Kommunen
ist das Wissen aber oft nicht vorhanden, diese Informationen richtig
einzuordnen“, sagt Thieken. „Die Dringlichkeit war den handelnden Akteuren
nicht klar“, sagt Mühr.
Und
auf die Kommunikation der Behörden folgt erst der anfälligste Teil der
Informationskette: die Warnung der Menschen vor Ort. Thieken wünscht sich, dass
die Medien Grundinformationen zu den Warnungen lieifern, erklären, worum es
geht. Dabei gehe es auch darum, den Menschen mitzuteilen, wie sie sich
verhalten sollen.
Wo
Sturzfluten auftreten, bedeuten sie Lebensgefahr. Das Wasser kann Keller und
Tiefgaragen blitzschnell fluten und bereits wenige Zentimeter Wasserstand
können ausreichen, das Öffnen einer Tür und damit die Flucht unmöglich zu
machen. „Die Gefährdungslage muss mit Handlungsanweisungen verknüpft werden“,
sagt Thieken.
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