Lehren
aus der Vergangenheit
Berthold
Seewald
Von
der Pest über die Cholera zur Tuberkulose - seit jeher greifen diese
Krankheiten nicht nur ins Leben jedes einzelnen Zeitgenossen ein.
Nicht selten ließen sie ganze Landstriche veröden und brachten den
gewohnten Aufbau der Gesellschaft gefährlich ins Wanken.
Im Jahr 1347
erreichte ein Schiff, das vom genuesischen Handelsposten Kaffa auf
der Krim ausgelaufen war, die Häfen von Genua und Marseille. Es
hatte einen tödlichen Passagier an Bord: die Beulenpest. Von da an
verwüstete der vom Bakterium Yersinia
pestis hervorgerufene Schwarze Tod
Europa und raffte binnen weniger Jahrzehnte etwa ein Drittel seiner
Bewohner hinweg.
Doch
das war erst der Anfang des Grauens. Auch in den folgenden
Jahrhunderten überfielen Pestwellen mit entsetzlicher Regelmäßigkeit
den Kontinent. Historiker haben in Frankreich zwischen 1348 und 1670
kein Jahr ausgemacht, in dem nicht an irgendeinem Ort Pestfälle
auftraten. Die höchste Zahl an Pesttoten in London – 68.596 –
wurde im Jahr 1665 gezählt. Während der Wiener Pest von 1679 starb
ein Drittel der Einwohner, rund 50.000 Menschen. Und noch 1720
forderte die Pest in Marseille und der Provence mehr als 100.000
Opfer.
Es war die
letzte Pestseuche in Europa. Zwar erinnert Yersinia pestis mit
Ausbrüchen in Ostasien oder auf Madagaskar immer wieder daran, dass
es in einigen Regionen der Welt endemisch auftritt. Aber Entfernung
und die Existenz wirksamer Antibiotika haben dem Bakterium die Aura
der tödlichen Gefahr genommen. Wie aber gelang es den Europäern,
sich von ihm zu befreien? Und kann uns die Pest damit womöglich
einen fernen Spiegel in
Zeiten der Corona-Pandemie
vorhalten?
Wie im aktuellen
Fall forderte die Seuche die staatlichen Autoritäten heraus. Bereits
dem Schiff aus Kaffa verweigerten die Behörden aus Genua wegen
einiger Verdachtsmomente die Landung, weshalb die sterbende
Mannschaft nach Marseille auswich. Dort war man weniger aufmerksam.
In dem Maße, wie die Staaten der Frühen Neuzeit über qualifizierte
Beamte, Ordnungskräfte und gesicherte Einnahmen verfügten, setzten
sie großräumige Maßnahmen gegen das Sterben in Gang. Diese
„Pestordnungen“ hat der Potsdamer Historiker
Franz Mauelshagen
als eine „erzwungene Gesellschaftsordnung eigener Art“
beschrieben, die die „gewöhnliche bürgerliche Wertordnung außer
Kraft setzte“.
Versammlungsverbote,
Isolation und Quarantäne wurden durchgesetzt, Kranke in
Pesthospitäler überführt, Kleidung, Wohnungseinrichtungen und oft
auch Häuser wurden verbrannt. Durch das schnelle Verscharren in
Massengräbern oft jenseits der Stadtmauern wurden den Toten das
ordentliche Begräbnis und die Heilsgemeinschaft zwischen Lebenden
und Toten genommen. Diese Zwangsmaßnahmen provozierten Widerstand.
Illegale Totengräber hatten Hochkonjunktur. Allein in Florenz zählte
man 1630 bis 1633 nicht weniger als 332 Verfahren wegen Verstoßes
gegen die Notstandsverordnung. Hinzu kamen Handelssperren, die zu
Versorgungskrisen führten.
Aber
die Maßnahmen hatten offenbar Erfolg. Zwar bedeutete die Überführung
in ein Pestspital oder die Isolation von Familien, in denen sich ein
Kranker befand, das sichere Todesurteil für die Betroffenen. Aber
die Separierung erhöhte die Überlebenschance der noch nicht
Infizierten. Andere behördliche Anordnungen griffen weniger, etwa
wenn mit dem massenhaften Hinschlachten von Haustieren auch die
Katzen ausgelöscht wurden, die als Vertilger der Ratten den
entscheidenden Wirt der Pestflöhe womöglich niedrig gehalten
hätten. Andererseits haben die Bauordnungen, die eine verbesserte
Hygiene in den Städten und die Verdrängung von Holz durch weniger
nagerfreundliche Steinbauten vorantrieben, Yersinia pestis sicherlich
zahlreicher Brutherde beraubt.
Durch
Modernisierung und Ausbau staatlicher Strukturen gelang es auch, die
Exzesse einzudämmen, die die Pestwellen begleiteten. Das waren vor
allem die Verschwörungstheorien, die die Seuche mal als feindliche
Kriegslist, als Anschlag des Teufels oder als Akt religiösen Hasses
erklärten. Opfer waren im Mittelalter oft die Juden geworden, denen
man die Vergiftung der Brunnen vorwarf. Aber auch andere Minderheiten
boten sich als Schuldige an wie auch die eigene Sündhaftigkeit, mit
der die christliche Kirche Gottes Zorn zu erklären suchte – wobei
anzumerken ist, dass die Pest ja oft nicht allein, sondern im Zuge
von Kriegen und Hungersnöten aufzutreten pflegte, die
während der Kleinen Eiszeit auch mit
furchteinflößenden Wetterkapriolen verbunden waren.
Wie
sehr der Prozess der modernen Staatsbildung die Pestbekämpfung
vorantrieb, zeigte sich auch in ihrem Süd-Nord-Gefälle. Vorreiter
war damals das heute viel gescholtene Italien, dessen prosperierende
Handelsstädte als erste zu dauerhaften Einrichtungen wie den
permanenten Sanitätsräten oder zum Bau von Spitälern gelangten,
schreibt Franz Mauelshagen. Später verfügte erst eine etablierte
Großmacht wie Österreich über die Ressourcen, vom Karpatenbogen
bis an die Adria über 1900 Kilometer hinweg einen Cordon zu
überwachen, der als „seuchenpolitisches Frühwarnsystem“ diente.
Eine
entscheidende Gruppe profitierte vom wissenschaftlichen und
technischen Fortschritt allerdings nur begrenzt. Die Ärzte mussten
den Kampf gegen die Pest noch ohne das Wissen führen, dass sie von
einem Bakterium hervorgerufen wurde (das erst 1894 entdeckt wurde)
und nicht von üblen Dämpfen, aus der Balance geratenen Körpersäften
oder falschen Sternenkonstellationen. Indem sie sich den Kranken
widmeten, wurden sie oft genug von der Gesellschaft stigmatisiert und
ausgeschlossen. Viele starben, ebenso wie Priester, Mönche und
Nonnen, die nicht nur seelsorgerisch die Infizierten begleiteten,
sondern auch als Pfleger.
Am
unteren Ende der medizinischen Hierarchie agierte das Personal in den
Spitälern und auf den Friedhöfen. Während der Epidemie in Wien
1679 etwa wurden die Lazarette zu regelrechten Schwarzmärkten, in
denen Nahrungsmittel und Medikamente, die für die Kranken bestimmt
waren, an zahlungskräftiges Publikum verkauft wurden. Die Verluste
an Leichenträgern taten ein Übriges, mussten ihre Reihen doch
schließlich mit Gewaltverbrechern aufgefüllt werden.
Da
das alles aber zumindest ein Mindestmaß an Organisation verlangte,
wurden auch die gesellschaftlichen Eliten in die Pflicht genommen.
Waren diese während des Mittelalters noch auf ihre Güter und Villen
außerhalb der Städte geflohen, wo sie sich dem süßen Leben
zumindest hinzugeben versuchten, mussten sie als Amtsträger nun im
Zentrum der Seuche ausharren. Damit aber war die Chance groß, dass
sich die öffentliche Ordnung nicht vollends auflöste und von den
Überlebenden Erfahrungen weitergegeben werden konnten, aus denen
sich Maßnahmen für die Zukunft ableiten ließen.
Dass das
einigermaßen gelang, zeigte sich ein Jahrhundert nach dem
Verschwinden der Pest, als mit der
Cholera eine neue Seuche über Europa kam.
Sie war die Konsequenz aus dem dramatischen Wachstum der Städte und
den katastrophalen Lebensbedingungen in ihren Elendsquartieren.
Versuchten es die Behörden zunächst wieder mit strikten Quarantäne-
und Desinfektionsanordnungen, die übrigens nicht selten zu
regelrechten Aufständen der Betroffenen führten, fanden sie den
Schlüssel zum rechten Umgang mit der Krankheit bald im Ausbau der
sanitären Infrastruktur. Die Wasserversorgung wurde modernisiert,
Abwässer wurden flächendeckend entsorgt, die Beseitigung von Abfall
organisiert. Die Cholera verschwand.
Uns
bleibt die Botschaft, dass sich die Quarantäne- und Hygienemaßnahmen
der Gegenwart auf jahrhundertelange Erfahrungen gründen, die
offenbar geeignet waren, Pandemien in den Griff zu bekommen. Diesen
Vertrauensvorschuss sollte eine demokratische Gesellschaft ihren
Institutionen zubilligen, auch wenn sie dabei auf Zeit auf zentrale
Freiheitsrechte verzichten muss.
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