Powered By Blogger

Samstag, 4. April 2020

EUROPA IN ZEITEN DER PEST UND CHOLERA




Lehren aus der Vergangenheit
Berthold Seewald

Von der Pest über die Cholera zur Tuberkulose - seit jeher greifen diese Krankheiten nicht nur ins Leben jedes einzelnen Zeitgenossen ein. Nicht selten ließen sie ganze Landstriche veröden und brachten den gewohnten Aufbau der Gesellschaft gefährlich ins Wanken.

Im Jahr 1347 erreichte ein Schiff, das vom genuesischen Handelsposten Kaffa auf der Krim ausgelaufen war, die Häfen von Genua und Marseille. Es hatte einen tödlichen Passagier an Bord: die Beulenpest. Von da an verwüstete der vom Bakterium Yersinia pestis hervorgerufene Schwarze Tod Europa und raffte binnen weniger Jahrzehnte etwa ein Drittel seiner Bewohner hinweg.
Doch das war erst der Anfang des Grauens. Auch in den folgenden Jahrhunderten überfielen Pestwellen mit entsetzlicher Regelmäßigkeit den Kontinent. Historiker haben in Frankreich zwischen 1348 und 1670 kein Jahr ausgemacht, in dem nicht an irgendeinem Ort Pestfälle auftraten. Die höchste Zahl an Pesttoten in London – 68.596 – wurde im Jahr 1665 gezählt. Während der Wiener Pest von 1679 starb ein Drittel der Einwohner, rund 50.000 Menschen. Und noch 1720 forderte die Pest in Marseille und der Provence mehr als 100.000 Opfer.
Es war die letzte Pestseuche in Europa. Zwar erinnert Yersinia pestis mit Ausbrüchen in Ostasien oder auf Madagaskar immer wieder daran, dass es in einigen Regionen der Welt endemisch auftritt. Aber Entfernung und die Existenz wirksamer Antibiotika haben dem Bakterium die Aura der tödlichen Gefahr genommen. Wie aber gelang es den Europäern, sich von ihm zu befreien? Und kann uns die Pest damit womöglich einen fernen Spiegel in Zeiten der Corona-Pandemie vorhalten?
Wie im aktuellen Fall forderte die Seuche die staatlichen Autoritäten heraus. Bereits dem Schiff aus Kaffa verweigerten die Behörden aus Genua wegen einiger Verdachtsmomente die Landung, weshalb die sterbende Mannschaft nach Marseille auswich. Dort war man weniger aufmerksam. In dem Maße, wie die Staaten der Frühen Neuzeit über qualifizierte Beamte, Ordnungskräfte und gesicherte Einnahmen verfügten, setzten sie großräumige Maßnahmen gegen das Sterben in Gang. Diese „Pestordnungen“ hat der Potsdamer Historiker Franz Mauelshagen als eine „erzwungene Gesellschaftsordnung eigener Art“ beschrieben, die die „gewöhnliche bürgerliche Wertordnung außer Kraft setzte“.
Versammlungsverbote, Isolation und Quarantäne wurden durchgesetzt, Kranke in Pesthospitäler überführt, Kleidung, Wohnungseinrichtungen und oft auch Häuser wurden verbrannt. Durch das schnelle Verscharren in Massengräbern oft jenseits der Stadtmauern wurden den Toten das ordentliche Begräbnis und die Heilsgemeinschaft zwischen Lebenden und Toten genommen. Diese Zwangsmaßnahmen provozierten Widerstand. Illegale Totengräber hatten Hochkonjunktur. Allein in Florenz zählte man 1630 bis 1633 nicht weniger als 332 Verfahren wegen Verstoßes gegen die Notstandsverordnung. Hinzu kamen Handelssperren, die zu Versorgungskrisen führten.
Aber die Maßnahmen hatten offenbar Erfolg. Zwar bedeutete die Überführung in ein Pestspital oder die Isolation von Familien, in denen sich ein Kranker befand, das sichere Todesurteil für die Betroffenen. Aber die Separierung erhöhte die Überlebenschance der noch nicht Infizierten. Andere behördliche Anordnungen griffen weniger, etwa wenn mit dem massenhaften Hinschlachten von Haustieren auch die Katzen ausgelöscht wurden, die als Vertilger der Ratten den entscheidenden Wirt der Pestflöhe womöglich niedrig gehalten hätten. Andererseits haben die Bauordnungen, die eine verbesserte Hygiene in den Städten und die Verdrängung von Holz durch weniger nagerfreundliche Steinbauten vorantrieben, Yersinia pestis sicherlich zahlreicher Brutherde beraubt.
Durch Modernisierung und Ausbau staatlicher Strukturen gelang es auch, die Exzesse einzudämmen, die die Pestwellen begleiteten. Das waren vor allem die Verschwörungstheorien, die die Seuche mal als feindliche Kriegslist, als Anschlag des Teufels oder als Akt religiösen Hasses erklärten. Opfer waren im Mittelalter oft die Juden geworden, denen man die Vergiftung der Brunnen vorwarf. Aber auch andere Minderheiten boten sich als Schuldige an wie auch die eigene Sündhaftigkeit, mit der die christliche Kirche Gottes Zorn zu erklären suchte – wobei anzumerken ist, dass die Pest ja oft nicht allein, sondern im Zuge von Kriegen und Hungersnöten aufzutreten pflegte, die während der Kleinen Eiszeit auch mit furchteinflößenden Wetterkapriolen verbunden waren.
Wie sehr der Prozess der modernen Staatsbildung die Pestbekämpfung vorantrieb, zeigte sich auch in ihrem Süd-Nord-Gefälle. Vorreiter war damals das heute viel gescholtene Italien, dessen prosperierende Handelsstädte als erste zu dauerhaften Einrichtungen wie den permanenten Sanitätsräten oder zum Bau von Spitälern gelangten, schreibt Franz Mauelshagen. Später verfügte erst eine etablierte Großmacht wie Österreich über die Ressourcen, vom Karpatenbogen bis an die Adria über 1900 Kilometer hinweg einen Cordon zu überwachen, der als „seuchenpolitisches Frühwarnsystem“ diente.
Eine entscheidende Gruppe profitierte vom wissenschaftlichen und technischen Fortschritt allerdings nur begrenzt. Die Ärzte mussten den Kampf gegen die Pest noch ohne das Wissen führen, dass sie von einem Bakterium hervorgerufen wurde (das erst 1894 entdeckt wurde) und nicht von üblen Dämpfen, aus der Balance geratenen Körpersäften oder falschen Sternenkonstellationen. Indem sie sich den Kranken widmeten, wurden sie oft genug von der Gesellschaft stigmatisiert und ausgeschlossen. Viele starben, ebenso wie Priester, Mönche und Nonnen, die nicht nur seelsorgerisch die Infizierten begleiteten, sondern auch als Pfleger.
Am unteren Ende der medizinischen Hierarchie agierte das Personal in den Spitälern und auf den Friedhöfen. Während der Epidemie in Wien 1679 etwa wurden die Lazarette zu regelrechten Schwarzmärkten, in denen Nahrungsmittel und Medikamente, die für die Kranken bestimmt waren, an zahlungskräftiges Publikum verkauft wurden. Die Verluste an Leichenträgern taten ein Übriges, mussten ihre Reihen doch schließlich mit Gewaltverbrechern aufgefüllt werden.
Da das alles aber zumindest ein Mindestmaß an Organisation verlangte, wurden auch die gesellschaftlichen Eliten in die Pflicht genommen. Waren diese während des Mittelalters noch auf ihre Güter und Villen außerhalb der Städte geflohen, wo sie sich dem süßen Leben zumindest hinzugeben versuchten, mussten sie als Amtsträger nun im Zentrum der Seuche ausharren. Damit aber war die Chance groß, dass sich die öffentliche Ordnung nicht vollends auflöste und von den Überlebenden Erfahrungen weitergegeben werden konnten, aus denen sich Maßnahmen für die Zukunft ableiten ließen.
Dass das einigermaßen gelang, zeigte sich ein Jahrhundert nach dem Verschwinden der Pest, als mit der Cholera eine neue Seuche über Europa kam. Sie war die Konsequenz aus dem dramatischen Wachstum der Städte und den katastrophalen Lebensbedingungen in ihren Elendsquartieren. Versuchten es die Behörden zunächst wieder mit strikten Quarantäne- und Desinfektionsanordnungen, die übrigens nicht selten zu regelrechten Aufständen der Betroffenen führten, fanden sie den Schlüssel zum rechten Umgang mit der Krankheit bald im Ausbau der sanitären Infrastruktur. Die Wasserversorgung wurde modernisiert, Abwässer wurden flächendeckend entsorgt, die Beseitigung von Abfall organisiert. Die Cholera verschwand.


Uns bleibt die Botschaft, dass sich die Quarantäne- und Hygienemaßnahmen der Gegenwart auf jahrhundertelange Erfahrungen gründen, die offenbar geeignet waren, Pandemien in den Griff zu bekommen. Diesen Vertrauensvorschuss sollte eine demokratische Gesellschaft ihren Institutionen zubilligen, auch wenn sie dabei auf Zeit auf zentrale Freiheitsrechte verzichten muss.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen