SITUATION NORMAL ALL FUCKED UP
- wie am 26. Dezember 2004 -
So narrte ein 18-jähriger Deutscher die sowjetische Flugabwehr
27. Mai 2017
Mit einem Sportflugzeug landete der Deutsche Mathias Rust am 28. Mai 1987 am Roten Platz in Moskau. Heldenstück oder Ränkespiel, um eine neue Säuberung der Roten Armee in Gang zu setzen?
Moskau, 28. Mai 1987, kurz nach 18 Uhr. Im Luftraum über dem Kreml erscheint ein einmotoriges Flugzeug und dreht einige Runden über dem Roten Platz. Es ist ein Donnerstag, und der Platz ist voller Menschen. Daher landet die Maschine etwa 20 Minuten später auf der Großen Moskwa-Brücke und kommt unweit der Basilius-Kathedrale mit den berühmten Zwiebeltürmen zum Stehen. Aus dem Flugzeug – es handelt sich um eine amerikanische Cessna vom Typ 172 P mit deutschen Kennzeichen – steigt ein 18-jähriger Mann (drei Tage später sollte er 19 werden). Gut gelaunt plaudert er mit Passanten. Amüsierte Milizen lassen ihn gewähren. Erst zwei Stunden später erscheinen Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes und führen den Mann ab. Es ist Mathias Rust aus Wedel bei Hamburg.Die Fotos vom Flug um den Roten Platz und der Film eines britischen Augenzeugen gehen um die Welt. Just am "Tag des Grenzsoldaten", der seit 1918 in der Sowjetunion und heute auch in Russland am 28. Mai gefeiert wird, gelingt es einem Hobbypiloten aus dem Westen, der gerade erst seine Flugprüfung gemacht hat, unter den Bedingungen des Kalten Krieges 700 Kilometer unbehelligt über sowjetisches Territorium zu fliegen. Erst vier Jahre zuvor war ein Jumbojet der Korean Air Lines mit 269 Passagieren an Bord von sowjetischen Jagdflugzeugen abgeschossen worden, weil er über Sachalin vom Kurs abgekommen war.
Dass Mathias Rust mit seinem Flug eine Staatskrise provoziert hat, macht den Deutschen noch heute für viele Russen zum Helden. Und nicht nur für sie. Fliegerisch gilt Rusts Unternehmen nach wie vor als Meisterleistung.
Mit der Begründung, einen zweiwöchigen Rundflug über die Nordsee machen zu wollen, hatte Rust die Cessna bei einem Flugsportverein auf dem Flugplatz Hamburg-Fuhlsbüttel gechartert. Bei einem Zwischenstopp in Uetersen baute er die Rücksitzbank aus und startete Mitte Mai zu den Färöer-Inseln und von dort weiter nach Island. Die nächsten Stationen waren Flughäfen in Norwegen und Finnland.
Von Malmi in Helsinki startete Rust, den sein Fluglehrer als risikoscheu und überlegt beschrieb, zu seiner historischen Mission. Im Tiefflug überflog er die sowjetische Grenze bei Leningrad (heute St. Petersburg) und folgte einfach der schnurgeraden Eisenbahnlinie nach Moskau. Zeitweilig wurde er von zwei MiG-Jägern begleitet, aber nicht weiter behelligt.
Als größtes Problem sollte sich die Landung in Moskau erweisen. Denn der Stadtplan, den Rust mitgenommen hatte, stellte sich über der Millionenstadt für die Orientierung als wenig hilfreich heraus. Schließlich fand er doch noch Kreml und Roten Platz, der aber wegen zahlreicher Passanten als Landepiste ausfiel. Erst die Brücke östlich des Kreml, damals noch nicht von dichtem Verkehr geflutet, ermöglichte die Landung. Ganze fünfeinhalb Stunden hatte der Flug gedauert.
Dass er ihn überlebte, war die eigentliche Sensation des Unternehmens. Als Gründe wurden Zufälle, Pannen und Schlampigkeit ausgemacht. So wurde die Cessna über Estland erst mit Verspätung gemeldet. Die Verantwortlichen in der Luftraumüberwachung entschieden, ihn weiterfliegen zu lassen. Dann wurde Rusts Maschine zwischenzeitlich für ein Wetterphänomen gehalten. Zudem war kurz zuvor ein Militärflugzeug auf der Strecke abgestürzt, zahlreiche Einsatzkräfte waren noch mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Möglicherweise tat die Feiertagslaune der Grenztruppen ein Übriges.
Auf jeden Fall kam Rusts Flug Michail Gorbatschow sehr gelegen, der seit zwei Jahren als Generalsekretär der KPdSU an der Spitze der Sowjetunion stand. Zur gleichen Zeit hatte er seinen Warschauer-Pakt-Kollegen bei einem Treffen in Ost-Berlin sein Konzept von Glasnost und Perestroika erklärt. Umgehend nutzte Gorbatschow das offensichtliche Versagen der Militärs, um zahlreiche Opponenten seiner Politik in den Ruhestand zu schicken.
Mehrere Hundert hohe Militärs verloren ihren Job. Der prominenteste Verlierer war Verteidigungsminister Sergej Sokolow. Eine ähnliche "Säuberung" des Militärs habe es nur unter Josef Stalin in den 1930er-Jahren gegeben, schreiben Beobachter. Allerdings endeten die Entlassungen unter Gorbatschow nicht mit Genickschüssen wie in den großen Säuberungen Stalins.
"Wenn ich gewusst hätte, was sich daraus entwickelt – ich würde es nicht noch mal wagen", gab Mathias Rust später zu Protokoll. Russische Zeitzeugen sehen das noch immer anders. Es sei eine Spionagemission gewesen, heißt es. Andere vermuten eine Intrige aus dem Umfeld Gorbatschows gegen renitente Parteikader. "Natürlich hat er die sowjetische Armee und den Staat in eine lächerliche Lage gebracht", sagt der Schriftsteller Wladimir Kaminer ("Russendisko"). Kaminer leistete damals seinen Wehrdienst bei der sowjetischen Raketenabwehr und erlebte den Flug hautnah mit, als Rust durch alle Verteidigungsringe bis nach Moskau vordrang. Für Kaminer und für viele Russen ist Rust noch immer ein Held.
Rust selbst bezeichnete seinen Ausflug als Friedensmission: "Erst einmal wollte ich mit diesem Flug den Weltfrieden fördern, und das zweite Ziel war, dass ich die Verständigung zwischen unseren Völkern ebenfalls durch diesen Flug fördern möchte." Zu diesem Zweck hatte er ein Friedenssymbol an seine Cessna gemalt. Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nahm es auf und wollte sich beinahe "kaputtlachen" über Rusts Landung am Roten Platz. Andere verglichen den Piloten mit Manfred von Richthofen, der als "Roter Baron" im Ersten Weltkrieg zum deutschen Fliegerhelden aufstieg.
Dass Gorbatschow die Blamage mit Fassung trug, zeigte das Urteil gegen Rust. Wegen illegalen Grenzübertritts und Rowdytums wurde er zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt. Doch verbrachte er seine Haft in einem Moskauer Gefängnis und wurde bereits im Sommer 1988 begnadigt.
In den Jahren danach fand Rust keine Ruhe. In Deutschland stand er wegen mehrerer Delikte vor Gericht, später soll er als Pokerspieler erfolgreich gewesen sein. Berichte kursieren, dass er in Hamburg in einem Yoga-Studio gearbeitet habe. Anderswo heißt es, er sei als Finanzberater in der Schweiz und in Estland aktiv.
Historiker bezeichnen Rusts spektakulären Flug als Fußnote in der Geschichte. Die einmotorige Cessna hat hingegen einen Platz im Museum bekommen: Seit einigen Jahren gehört sie zur Sammlung des Deutschen Technikmuseums in Berlin.
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