20 Jahre Kaprun-Unglück: "Österreich ist an der
Wahrheitsfindung gescheitert"
Interview von Leila
Al-Serori, Wien
Beim Gletscherbahn-Unglück in Kaprun starben 155 Menschen, verurteilt wurde niemand. Um den Tourismus zu schützen, habe sich die Republik reingewaschen, sagt der österreichische Autor Hannes Uhl. Und zieht Parallelen zu Ischgl.
Bergungsarbeiter bei der Inspektion von Überresten der
verbrannten Tunnel-Gletscherbahn am Kitzsteinhorn bei Kaprun nach dem Unglück
im November 2000.© Franz Neumayr/dpa Bergungsarbeiter bei der Inspektion von
Überresten der verbrannten Tunnel-Gletscherbahn am Kitzsteinhorn bei Kaprun
nach dem Unglück im November 2000.
"Österreich ist an der Wahrheitsfindung
gescheitert"
Das Seilbahnunglück im österreichischen Kaprun am 11.
November 2000 kostete 155 Menschen das Leben, darunter auch 37 deutschen
Staatsbürgern. Bis heute gibt es Kritik an der juristischen Aufarbeitung der
Katastrophe. Unumstritten unter den Sachverständigern ist, dass der Brand von
einem Kunststoff-Heizlüfter ausging. Umstritten hingegen, wer dafür die
Verantwortung trägt. Laut dem österreichischen Richter, niemand der sechzehn
Angeklagten, die allesamt 2007 freigesprochen wurden, sondern die
Herstellerfirma in Deutschland. Dort wiederum sah man keine Schuld bei der
Firma, sondern beim unsachgemäßen Einbau. Versuche für eine Wiederaufnahme des
Verfahrens scheiterten.
Der langjährige Journalist und Ex-SPÖ-Pressesprecher Hannes
Uhl beschäftigt sich seit Jahren mit dem Fall und schrieb 2014 mit Hubertus
Godeysen das Buch "155 - Kriminalfall Kaprun", das nun aktualisiert
in der englischen Übersetzung erscheint.
SZ: Herr Uhl, Sie haben ein Buch über Kaprun verfasst, in
dem Sie Österreichs Justiz schwere Vorwürfe machen. Wie kam es dazu?
Ich bin im Nachbarort von Kaprun aufgewachsen und 2009 durch
Zufall auf die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft Heilbronn gestoßen, die im Auftrag
der österreichischen Justiz ermittelt hatte. Diese unterscheiden sich
gravierend von dem, was in Österreich über Kaprun bekannt ist. Als ich
angefangen habe zu recherchieren, war schnell klar, dass das keine Mutmaßungen
sind, sondern glasklare Fakten. Aber alles was aus Deutschland kam, wurde in
Österreich als Verschwörungstheorie abgetan. Das konnte ich nicht so stehen
lassen. Die Republik Österreich ist im Fall Kaprun an der Wahrheitsfindung
gescheitert.
Damit wir verstehen, inwiefern sich die Sicht des deutschen
Gerichts vom österreichischen unterscheidet, müssen wir nochmal zurückschauen.
Was genau ist damals passiert?
Am 11. November 2000 ist im hinteren Teil der Gletscherbahn
Kaprun ein Feuer ausgebrochen, bei dem Brand im Tunnel kamen 155 Menschen ums
Leben. Es war schnell für die Ermittler klar, dass ein Heizlüfter der
Hauptverdächtige für die Brandursache war.
Wie konnte es passieren, dass fast alle Insassen starben,
gab es keine Sicherheitsmaßnahmen?
Es gab keine Eigenrettungskonzepte. Der Großteil der
Menschen war deshalb lange in den Kabinen eingesperrt, weil sich die Türen von
innen nicht öffnen ließen. Der Fahrer hat erst spät erkannt, was passiert.
Zwölf Menschen konnten sich mit Gewalt retten: Sie haben mit ihren Skiern die
doppelwandige Plexiglasscheibe eingeschlagen und sind im Tunnel nach unten
gerannt.
Nach dem Unglück wurden 16 Personen angeklagt.
Die Verantwortlichen der Gletscherbahn und der Firmen, die
für Zugaufbau und Hydraulik zuständig waren. Sie wurden aufgrund des Hauptgutachtens,
das den Heizlüfter, seine unsachgemäße Verwendung und die unmittelbare Nähe zu
den unter Hochdruck stehenden Hydraulikölleitungen als Brandursache aufführte,
angeklagt. Außerdem Beamte des Verkehrsministeriums, die den Zugumbau genehmigt
hatten.
Aber alle wurden 2004 freigesprochen - warum?
Es gab von Anbeginn an ein starkes Ungleichgewicht der
Kräfte im Prozess. Die Angeklagten hatten eine Armada an hochkarätigen
Verteidigern an ihrer Seite. Darunter übrigens heute sehr bekannte
Persönlichkeiten: Wolfgang Brandstetter, späterer Justizminister - oder
Wilfried Haslauer, heute Landeshauptmann Salzburgs.
Ihnen gegenüber stand eine einzige Staatsanwältin - und ein
Gutachter, der von der Verteidigung massiv attackiert wurde und schließlich
krankheitsbedingt ausschied. Dadurch hat der Prozess eine Wendung genommen,
sein Gutachten spielte keine Rolle mehr. Plötzlich war nicht mehr der
unsachgemäße Einbau des Heizlüfters Grund für den Brand, sondern ein
Produktionsfehler. Damit war für den Richter niemand der Angeklagten
verantwortlich, sondern die deutsche Firma, die den Heizlüfter fabriziert
hatte. Dabei ist heute klar, dass vor allem der Einbau das Problem war.
Inwiefern?
Der Heizlüfter war nicht für Transportmittel entwickelt
worden, sondern für den Gebrauch zuhause, im Bad oder WC. Er wurde zudem
konstruktiv verändert, aus Platzgründen zerlegt und in den Pult verschraubt.
Durch den Einbau neben den Hydraulikölleitungen wurde er zur tickenden
Zeitbombe. Die Staatsanwältin konnte noch durchsetzen, dass das Gutachten mit
dem Befund verlesen wurde im Prozess - aber darauf eingegangen ist niemand.
Plötzlich war alles entschuldbar, kein österreichischer Beteiligter mehr
verantwortlich. Alle wurden freigesprochen mit dem Hinweis: Es war ein
unabwendbares Ereignis, ausgelöst durch einen Dritten und zwar den deutschen
Heizlüfter-Hersteller Fakir. Dieser ging infolge insolvent.
Abgesehen von den Freisprüchen kam es während des Prozesses
noch zu weiteren Ungereimtheiten.
Es vergingen zum Beispiel mehrere Monate bis der externe
Gutachter den Heizlüfter überhaupt untersuchen durfte - weil das Beweismittel
vom Innenministerium und später vom Landeskriminalamt in Salzburg offenbar
zurückgehalten wurde. Aufgrund dieser Ungereimtheiten war sogar eine
Hausdurchsuchung im Innenministerium Thema. Aber das wurde aus Rücksicht auf
das Image Österreichs in der Weltöffentlichkeit wieder verworfen.
Laut Medienberichten sorgte man sich auch um den Tourismus.
Ja, der Stellenwert des Tourismus ist enorm in Österreich,
vergleichbar mit der Autoindustrie in Deutschland. Das dürfte einer der Gründe
sein, warum Schritt für Schritt verschleiert und beschwichtigt wurde. Ähnliches
haben wir ja in Ischgl erlebt - wo auch niemand schuld sein will für die vielen
Corona-Infektionen und das späte Handeln der Behörden. Starke Lobbys im
Hintergrund verhindern offenbar eine schonungslose Aufklärung. Dasselbe war in
Kaprun der Fall. Österreich hat sich reingewaschen.
Heute ist Kaprun in Österreich kaum Thema mehr, obwohl die
Staatsanwaltschaft Heilbronn 2007 zu anderen Schlüssen kam. Welche waren das?
Das ist für mich das Schockierende: Wäre der Gerichtsakt
nicht wegen einer Sachverhaltsdarstellung gegen die Firma Fakir nach Heilbronn
gegangen, würden wir heute noch nicht wissen, was in Kaprun passiert ist. Dabei
sind die Fakten, die Heilbronn veröffentlicht hat, keine Überraschung: Das
Urteil des Richters in Salzburg, dass es ein unabwendbares Ereignis gewesen
wäre, ist demnach nicht haltbar. Man hat es in Österreich gerne auf göttliche
Fügung geschoben, der Richter sagte damals bei der Urteilsverkündung sogar:
"Da hat der liebe Gott für einige Minuten im Tunnel das Licht
ausgemacht." Fakt ist aber, dass der Heizlüfter und seine Prüfabzeichen in
dem Moment, in dem er woanders als in einem Bad oder WC eingebaut wurde,
hinfällig geworden sind. Er hätte niemals in den Zug eingebaut werde dürfen, so
wie es auch schon vom ersten Gutachter festgehalten wurde. Konstruktionsfehler
haben die deutschen Ermittler keine gefunden. Es war kein göttlicher
Donnerschlag, sondern eine von Menschenhand gebaute Maschine hat 155 Personen
getötet. Weil der Mensch Fehler gemacht hat.
Sie haben das alles in Ihrem Buch aufgeschrieben und für
verschiedene Medien. Was gab es für Reaktionen?
Es gab vor der Veröffentlichung eine ganze Menge an
Klageandrohungen, um mich und meinen Co-Autoren einzuschüchtern. Aber es kam
schließlich zu keiner einzigen Klage. Keiner der Beteiligten möchte offenbar,
dass die ganze Sache nochmal vor Gericht thematisiert wird.
Die Republik Österreich hat die Hinterbliebenen aber doch
entschädigt, auch die Sicherheitsmaßnahmen in solchen Bahnen sind deutlich
verschärft worden.
Ja. Heute gibt es Sprechverbindungen aus der Personenkabine,
es werden brandhemmende Materialien verbaut. Aber für viele Hinterbliebene hat
die Katastrophe nie aufgehört. Es hat ja niemand die Verantwortung übernommen.
Natürlich hat keiner dieses Unglück gewollt oder vorausgesehen, aber es wäre
laut allem, was wir heute wissen, vermeidbar gewesen. 20 Jahre später wäre es
an der Zeit, dass die eigenen Fehler in Österreich eingestanden werden. Aber
bis heute gibt es nur Beileidsbekundungen.
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