Powered By Blogger

Donnerstag, 7. April 2022

FRESSE HALTEN - IDIOTEN!

 


„Liebe westeuropäische Intellektuelle: Bei Russland bitte mal die Klappe halten“

Harry Nutt – 8. April 2022 

© Berliner Zeitung 

In einem literarisch verfeinerten Wutausbruch hat sich der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) bitter über die Überheblichkeit westlicher Intellektueller beklagt. Für sie stelle sich Osteuropa vor allem als absurdes Gebiet von fragwürdig verwaschener Identität dar, für das die üblichen Gesetze und Grundsätze der zivilisierten Welt nicht gelten, eine mit einem Fluch belegte Zone, für die Leid und Gewalt naturgegeben scheinen. Osteuropa sei, jedenfalls aus der Sicht einiger Intellektueller, nicht fähig, selbst über sein Schicksal zu bestimmen – es bleibt Objekt, das von den Großmächten manipuliert wird. 

Anlass für Twardochs bittere Bilanz sind Einlassungen zum Ukraine-Krieg, in denen etwa die prominenten nordamerikanischen Philosophen Naomi Klein und Noam Chomsky den Druck der Nato auf Russland für den Überfall auf die Ukraine verantwortlich gemacht haben. 

Demnach handele Russland, wenn es Mariupol dem Erdboden gleichmacht, Krankenhäuser, Theater und andere zivile Ziele bombardiert, aus Sorge um die eigene Sicherheit. „Die Angst der Menschen, die sich in den Kellern von Mariupol versteckten“, ruft Twardoch den kühlen Denkern zu, „zählt nicht, sie ist nicht die Angst von jemandem, der in den Augen der erwähnten Intellektuellen über sein eigenes Schicksal befinden dürfte.“ Geradezu verzweifelt mündet Twardochs Essay, in dem die Liste der Angesprochenen auch auf westeuropäische Kollegen erweitert, in dem Satz: „Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland. Russland hat euch nie berührt […] Und da ihr nichts versteht, ist es höchste Zeit, dass ihr in Fragen Russlands und Osteuropas einfach einmal die Klappe haltet. Punkt.“ 

Ist es heiliger Zorn, dem man mit Nachsicht begegnen sollte, erst recht, wenn Szczepan Twardoch sich in die inakzeptable Formulierung hineinsteigert, dass die Lüge zum russischen Wesen gehöre? Oder trifft er einen wunden Punkt, wenn er das auffällige Desinteresse westeuropäischer Intellektueller an den Verhältnissen in Polen, dem Baltikum, Belarus oder eben auch in der Ukraine thematisiert und daraus eine Mitschuld, dass die keineswegs im Verborgenen gehaltenen Vorbereitungen des Krieges geflissentlich übersehen wurden? 

Man kann versuchen, mit statistischen Mitteln gegenzuhalten. Insbesondere deutsche Verlage waren über viele Jahre engagiert dabei, für die Werke aus der polnischen, ukrainischen, georgischen, russischen oder auch rumänischen Literatur deutsche Leser zu gewinnen. Ein Blick in die Statistik fällt indes ernüchternd aus. 

Von den rund 10.000 Titeln die 2020 aus Fremdsprachen übersetzt und veröffentlicht wurden, waren es 70 Werke aus dem Russischen und 44 aus dem Polnischen, in der Liste der 20 am meisten übersetzen Sprachen kamen Ukrainisch, Georgisch, Ungarisch und Rumänisch nicht vor, obwohl doch die beiden Buchmessen in Leipzig und Frankfurt in ihren Länderschwerpunkten immer wieder engagiert auch osteuropäische Nachbarländer präsentieren. 

Szczepan Twardoch würde den Nachweis an Übersetzungen wohl als halbherzigen Abwieglungsversuch zurückweisen. Wie groß die Defizite insbesondere des historischen Wissens über die Geschichte Osteuropas sind, offenbarte Außenministerin Annalena Baerbock kurz vor Beginn des Krieges, als sie bei einem Besuch in Kiew Waffenlieferungen mit dem Verweis auf die Verantwortung ablehnte, die aus der deutschen Geschichte hervorgehe. 

Gerade aufgrund der von Deutschen verursachten Gewaltgeschichte hätte man Waffenlieferungen jedoch ausdrücklich begründen können. In der Aufarbeitung des deutschen Vernichtungskrieges sei die Sowjetunion leider oft mit Russland gleichgesetzt geworden, sagt denn auch der Historiker Michael Wildt, und es sei nicht gesehen worden, dass die nationalsozialistischen Massenverbrechen vor allem in der Ukraine, Belarus und Polen begangen wurden – und dass es dort auch stalinistische Massenverbrechen gab. In Deutschland, resümiert Wildt, „weiß man nach wie vor sehr wenig über die Gewaltgeschichte in Osteuropa“. 

In dem Maß, wie Außenministerin Baerbock ihre Lektion gelernt und ihren Kurs korrigiert hat, sollten sich auch die Teilnehmer der aktuellen Debatte dringend einer historischen Nachbereitung unterziehen und die nun stereotyp vorgetragene Anklage etwa gegen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dessen Politik als Außenminister durch eine ehrliche Selbstbefragung ersetzen. Über die Rolle einzelner Politiker hinaus wäre mit Blick auf ein frappierendes Ost-West-Gefälle auch von einer gesellschaftlichen Verantwortung zu sprechen. 

Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland

Szczepan Twardoch  

© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland 

2008 veröffentlichte Rebecca Solnit ihren Essayband «Men Explain Things to Me». Sie beschrieb darin, was später als «mansplaining» bekannt wurde. Zwar verwendet Solnit den Begriff nicht, sie schildert aber eine Anekdote, die das Wesen des Phänomens trifft: Als sie über ihr Buch sprechen wollte, unterbrach ein Mann sie mit den Worten, er habe gehört, kürzlich sei ein sehr wichtiges Buch zu dem Thema erschienen, von dem Solnit sprach. Er kam gar nicht auf die Idee, ausgerechnet die Autorin dieses wichtigen Buches vor sich zu haben. 

Eine ähnliche Haltung legen viele westeuropäische Intellektuelle an den Tag, wenn sie sich über Mittelosteuropa und sein schwieriges, von Gewalt geprägtes Verhältnis zu Russland äussern. Als Russland vor einem Monat die Ukraine überfiel und über Nacht eine Reihe von Dogmen der europäischen Politik zum Einsturz brachte, bezeichneten hierzulande einige diese paternalistische Haltung der europäischen Intellektuellen als «Westsplaining», natürlich in Anlehnung an das «mansplaining» des feministischen Diskurses, auch wenn beides sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen abspielt. Dennoch bürgerte sich die Bezeichnung ein. «Westsplaining» meint heute die herablassend-paternalistische Einstellung der Gurus und Intellektuellen eines im weitesten Sinne verstandenen Westens zu den Meinungen, Gedanken und Überzeugungen der Europäer aus Osteuropa. 

Das Phänomen ist keineswegs neu. Es kam mit dem Begriff Osteuropa im öffentlichen Raum auf, Mitte des 18. Jahrhunderts, als auf der mentalen Landkarte Europas «Ost» und «West» an die Stelle der früheren Teilung in Nord und Süd traten. 

Im Niemandsland

Larry Wolff widmet sich in seinem monumentalen Werk «Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment» ganz der Erfindung des Begriffs «Osteuropa» in der Aufklärung. Vor allem Reisende trugen dazu bei, für die das Reisen in den mentalen (aber nicht immer geografischen) Osten – in der Praxis also auf den Balkan, nach Warschau, nach Petersburg oder Moskau – dann einen Sinn hatte, wenn dieser Osten sich grundsätzlich vom Westen unterschied. Wenn er all das war, was der Westen nicht war, und dem Westen über seinen Gegensatz zur Selbstdefinition verhelfen konnte. 

Als der französische Diplomat Louis-Philippe de Ségur 1784 zum ausserordentlichen Botschafter am Hofe Katharinas II. ernannt wurde und nach Petersburg aufbrach, hatte er bei der Einreise in das damalige Polen folgerichtig den Eindruck, wir seien «um zehn Jahrhunderte zurückversetzt, befinden uns unter Hunnen, Skythen, Wenden, Slawen und Sarmaten». 

Die Reisenden verliessen also den Hort der «Zivilisation» (dieser Neologismus des 18. Jahrhunderts liess sich am einfachsten durch das angebliche osteuropäische «Barbarentum» definieren) und nahmen Kurs auf den wilden, ihrer Meinung nach unzivilisierten Osten, der keine Identität per se besass, sondern lediglich Bindeglied zwischen Europa und Asien war, allmählicher, spektraler Übergang von der Zivilisation zur Barbarei. 

Soll etwa das Opfer schuld sein?

Seit der Erfindung Osteuropas sind 250 Jahre vergangen, die westeuropäischen oder – weiter gefasst – euroatlantischen Intellektuellen betrachten es immer noch ähnlich wie Ségur, wie das imaginäre Land Zubrowka aus Wes Andersons «The Grand Budapest Hotel»: einmal zauberhaftes, dann wieder absurdes Gebiet von fragwürdiger und verwaschener Identität, für das die üblichen Gesetze und Grundsätze der «zivilisierten» Welt nicht gelten und das je nach Situation geradezu ein Zauberland ist, wie bei Anderson, oder aber – öfter – eine mit einem Fluch belegte Zone, für die Leid und Gewalt quasi naturgegeben scheinen. Was in Paris ein Skandal wäre, findet der westeuropäische Intellektuelle in Kiew völlig akzeptabel. 

Nach dieser Darstellung ist Osteuropa nicht fähig, selbst über sein Schicksal zu bestimmen – es bleibt Objekt, das von den Grossmächten manipuliert wird. Deshalb darf Naomi Klein allen Ernstes in den sozialen Netzwerken behaupten, schuld am Krieg in der Ukraine sei die Nato, weil sie nach 1997 so nah an die russischen Grenzen herangerückt sei. Als wäre dieses Vorrücken auf einer Art unbewohnter terra nullius, einem Niemandsland erfolgt, auf dem die Imperien ihre Kräfte messen. Als wäre dieses Land nicht von selbstbestimmten Gesellschaften besiedelt gewesen. 

Indes erfolgte der Nato-Beitritt der Länder hinter dem 1989 gefallenen Eisernen Vorhang nicht durch Unterwerfung. Die Nato hat Polen, Tschechien oder Lettland nicht erobert, diese Länder haben sich dem Bündnis vielmehr in einem demokratischen Willensakt der Vertretungen ihrer Bürger angeschlossen. 

Ähnlich, wenn auch verspätet, erst nach Kutschma, verlief der Prozess in der Ukraine. Die ukrainische Gesellschaft verlieh ihrem Willen zur Westbindung ihres Landes Ausdruck. Dies geschah sowohl in den blutig unterdrückten, am Ende siegreichen Protesten, die in der Revolution des Maidan mündeten, als auch auf dem Weg demokratischer Wahlen, bei denen, das sollte erwähnt werden, die extreme Rechte, Lieblingsthema Putins ebenso wie der westeuropäischen Linken, eine totale Niederlage erlitt. 

Die ukrainische Gesellschaft will also in einem Land mit Westbindung leben und kein Teil der «russischen Einflusssphäre» sein. 

Dennoch sorgt sich Noam Chomsky um «die Sicherheitsbedenken Russlands», auf die Putin, so Chomsky, den Westen seit dreissig Jahren hinweise. Russlands Sorgen um die eigene Sicherheit werden dabei für bare Münze genommen, niemand fragt, ob sie irgendeinen rationalen Grund haben. Hat irgendjemand in Europa den Willen, die Mittel, Pläne oder Absichten, gegen Russland loszuschlagen? Nein, und das weiss in Osteuropa jeder. Die russischen «Sorgen um die eigene Sicherheit» sind ein Phantasma, das einzig zur Begründung russischer Aggression dient. Wieso weiss Noam Chomsky es nicht? 

Die unausrottbare Faszination

Ähnlich sieht Phyllis Bennis den Grund für den Kriegsausbruch in der Ukraine im «Druck der Nato auf Russland». Die Ukraine, ihre Gesellschaft, ihr Wille, Teil des Westens zu sein, zählen für Chomsky, Bennis oder Klein nicht. Akteure sind der Westen und Russland, dazwischen erstreckt sich eine terra nullius, Andersons bereits erwähntes Zubrowka, besiedelt von Menschen, die zur Selbstbestimmung unfähig sind und deren «Sicherheitsbedürfnisse» die europäischen Intellektuellen keinen Deut scheren. 

Nach Chomsky, Bennis, Klein oder Branko Marcetic vom «Jacobin» handelt Russland, wenn es Mariupol dem Erdboden gleichmacht, Krankenhäuser, Theater und andere zivile Ziele bombardiert, aus «Sorge um die eigene Sicherheit». Die Angst der Menschen, die sich in den Kellern von Mariupol versteckten, zählt nicht, sie ist nicht die Angst von jemandem, der in den Augen der erwähnten Intellektuellen über sein eigenes Schicksal befinden dürfte. Mehr noch, die erwähnten Intellektuellen sind geneigt, die Ukraine so zu behandeln, wie patriarchale Gesellschaften es mit Gewaltopfern tun: Irgendwie müssen die ja auch selbst dran schuld sein. Warum hat die Ukraine es so provozierend abgelehnt, russische Einflusssphäre zu bleiben? Wozu hat sie Russland herausgefordert? 

Ausserdem – würde Marcetic vom «Jacobin» bestimmt hinzufügen – kämpft in der Ukraine, in dem in Schutt und Asche gebombten Mariupol doch das Asow-Regiment, also die extreme Rechte. Faschisten. Extreme Rechte lassen sich natürlich in jedem europäischen Land finden, doch das kümmert Marcetic nicht. Noch weniger interessiert ihn, dass Russland im Grunde selbst eine faschistische Diktatur ist, mit allen Attributen einer solchen: staatlichem Nationalismus, fehlender Opposition, militärischer Indoktrinierung der Jugend schon im frühesten Alter, Arbeitslagern und Mord an politischen Gegnern. Marcetic stört sich am ukrainischen Regiment Asow, einer für das Land ganz marginalen Erscheinung, er stört sich nicht an Putins Jugend-Militär-Organisation Junarmia und dem ganzen faschistischen Staat, zu dem Russland sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat. 

Warum? Eine psychoanalytische Deutung böte sich hier an, eine Erklärung für die unausrottbare Faszination, die Russland auf den linksliberalen Westen ausübt, angefangen mit Voltaire und seinen Ergebenheitsadressen an Katharina II. bis hin zu Sartre und leider noch weiter. Aber wichtiger als die Analyse scheint mir heute ein klares Postulat: Das muss ein Ende haben. 

Westliche Lust an der Exotik

Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland. Russland hat euch nie berührt, weder euch noch eure Vorfahren. Ihr versteht es nicht, noch weniger versteht ihr Osteuropa – denn während Russland euch faszinieren mag, unsere Zubrowkas und Ruritaniens bleiben für euch immer eine terra nullius. Und da ihr nichts versteht, ist es höchste Zeit, dass ihr in Fragen Russlands und Osteuropas einfach einmal die Klappe haltet. Punkt. 

Lasst eure komplizierten Theoriegebäude, die auf Ignoranz und Arroganz gebaut sind; hört nicht mehr auf die kleptokratische Banditendiktatur Russland, diese ewige Plage nicht nur der eigenen Bewohner, sondern auch aller Nachbarn, sondern hört endlich einmal darauf, was die Ukrainer selbst zur ukrainischen Sicherheit zu sagen haben. Was zum «Gleichgewicht der Kräfte» in Europa die Staaten sagen, die das Pech haben, an Russland zu grenzen, und deren Geschichte von russischer Gewalt gezeichnet ist. 

Hört endlich einmal auf Polen, Litauen, Lettland, Estland, alles Länder, die ihre «skin in the game» haben, Russlands unglückliche Nachbarn, in deren familiärer und kollektiver Erinnerung sehr drastisch gespeichert ist, was das bedeutet – «Russki Mir». Wer diese Traumata nicht geerbt hat, kann sie nicht verstehen. Ihr wisst wirklich nicht besser als wir, was Russland ist. Nie rollten russische Panzer in den Vororten von Paris; eure Grossmütter und Mütter haben keinen Schimmer davon, was das Anrücken der russischen «Befreier» für uns bedeutete, jene Europäer, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf der schlechteren Seite des Eisernen Vorhangs fanden. Eure exotiktrunkenen Abhandlungen über die «russische Seele» sind wertlos, all die Jahre habt ihr jede euch von Russland eingeflüsterte Erzählung für bare Münze genommen. 

Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock wunderte sich nach dem Kriegsausbruch, dass Putin lügt. Wäre die Situation nicht so tragisch, hätte das einen grossen Lacher von Tallinn bis Bukarest verdient. Nach 2014 festzustellen, dass Putin lügt, ist wie die Erkenntnis, dass Grossbritannien eine Insel ist, eigentlich Amtsvoraussetzung für eine Aussenministerin. Wir in Osteuropa wissen sehr genau, dass Russland immer lügt, wenn es ihm gerade passt, es ist auf Lügen gebaut, die Lüge gehört zu seinem Wesen. Da hätte man besser auf Lech Kaczynski hören sollen, der 2008 in Tbilissi den künftigen Weg des Putinschen Russland vorhersagte. Das wurde damals vom Westen mit einer Handbewegung abgetan als eine typisch idiosynkratische Voreingenommenheit der Bewohner des Niemandslandes, die grundlos auf ihr Selbstbestimmungsrecht pochen. 

Wenn also heute die Europäer aus Osteuropa den Deutschen, Franzosen oder Briten sagen, dass der Frieden nicht durch Verhandlungen, sondern nur durch einen Sieg der Ukraine gesichert werden kann – dann hört jetzt auf sie, denn sie wissen, was sie sagen. Wenn Russland heute den Konflikt einfrieren will, so nicht aus Sorge um die Bewohner Kiews, Charkiws oder Mariupols, sondern weil es sich neu aufstellen, sein militärisches Potenzial auffüllen und erneut zuschlagen will, so wie seinerzeit in Tschetschenien. Frieden tritt nicht ein, wenn ihr euch mit Russland einigt, sondern erst, wenn Russland zu keinen Angriffshandlungen mehr in der Lage sein wird. So einfach ist das. 

Der Westen meint heute, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden – vielleicht trifft das zu. Aber unsere Intuition, unser educated guess, basierend auf hundertjähriger Erfahrung, legt doch nahe, dass dieser Krieg bereits begonnen hat und es kein Zurück in die Welt davor gibt. Das heisst natürlich nicht, dass es die Lösung wäre, jetzt Nato-Truppen in die Ukraine zu schicken, es bedeutet nicht, dass man eine Eskalation nicht vermeiden sollte. Es reicht schon, sich zu sagen: Die Nato steht im Krieg mit Russland. Diesen Krieg muss jemand verlieren. Wir hier, in Osteuropa, würden es vorziehen, wenn dieser Jemand das alte Russland ist. 

Russland kann man nicht trauen

1891 ging vor der Festung von Kronstadt, unweit von Petersburg, die französische Fregatte «Marengo» vor Anker, ein Schiff, das schon vor dem Aufkommen der Dreadnoughts stark veraltet und ohne grösseren Kampfwert war. Das Besuchsziel dieses Flaggschiffs des Ostsee-Geschwaders der französischen Kriegsmarine war ein diplomatisches, kein militärisches: Der Fregattenkapitän Admiral Gervais erhoffte sich den grossen diplomatischen Durchbruch: Nach 70 Jahren des engen Bündnisses zwischen Russland und den Mittelmächten rechnete Frankreich auf eine völlige Neuordnung des europäischen Kräfteverhältnisses. 

Das französisch-russische Bündnis verstand sich keineswegs von selbst: Die französische Republik war atheistisch und liberal, Zar Alexander III. dagegen wohl der konservativste von allen Romanows des 19. Jahrhunderts.

 Als an Deck der «Marengo» ein russisches Orchester die Marseillaise anstimmte – erstmals in der russischen Geschichte öffentlich, vor höchsten Würdenträgern –, zog Zar Alexander III. die Mütze und nahm Haltung an. Der Autokrat und Despot erwies dem revolutionären Lied die Ehre. 

Tat der Zar dies, weil er die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit teilte? 

Keineswegs. Russland, verärgert über die arrogante und kurzsichtige Politik Deutschlands nach der Entlassung des Reichskanzlers Bismarck, suchte nach neuen Bündnispartnern, einer neuen Öffnung in der europäischen Politik. Alexander III. war der gleiche Tyrann wie zuvor. 

Warum erwähne ich das? 

Weil ich überzeugt bin, dass in nicht allzu ferner Zukunft, wie üblich im Auf und Ab der russischen Geschichte, auf den stalinistischen Putin ein neuer Chruschtschow folgen wird, so wie auf Breschnew schliesslich Gorbatschow und Jelzin gefolgt sind. Vielleicht wird das Alexei Nawalny sein, der aus seinem Lager-Martyrium heute moralisches und politisches Kapital schlägt. Natürlich kann ich nicht wissen, ob er oder jemand anderes es sein wird. Aber dass seine freiwillige Rückkehr nach Russland, geradewegs ins Straflager, nur ein Zufall gewesen sein soll – daran mag ich nicht glauben. 

Wenn also irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, Nawalny oder jemand ganz anderes Putin ersetzen wird, die Mütze zu den Klängen der Marseillaise abnehmen wird wie Alexander III., eine neue Glasnost verkünden, eine neue Perestroika, ein neues Tauwetter, aus tiefstem Herzen um Vergebung bitten wird für die Irrungen und Wirrungen, für das vom Erdboden gefegte Mariupol und die bombardierten Spitäler und Theater, dann gehe ich davon aus, dass ganz Europa erleichtert aufatmen und befinden wird, Russland sei damit in die gesetzestreue Völkerfamilie zurückgekehrt, von nun an dürfe man wieder Geschäfte mit ihm machen, business as usual. 

Dann, möchte ich gern glauben, werdet ihr auf jene hören, die dieser wundersamen Wandlung Russlands wieder einmal nicht trauen. Meine Hoffnung ist nicht die Vision einer neuen Perestroika, sondern eher die Vorstellung, dass an einem sehr geheimen Ort, irgendwo in Washington oder London, jemand eine Art Morgenthau-Plan für Russland ausarbeitet, so wie vor achtzig Jahren für Deutschland. 

Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch, geb. 1979, lebt im schlesischen Pilchowice. Auf Deutsch ist gerade ist sein Roman «Demut» erschienen. – Übersetzung aus dem Polnischen von Olaf Kühl.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen